Adventskalender, Türchen 18 Buchempfehlung: Der Sturz des Himmels. Worte eines Yanomami-Schamanen
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18. Dezember 2024, 05:00 Uhr
Knapp 1.000 Seiten Worte eines Yanomami-Schamanen. Was hat das mit Wissenschaft zu tun? Sehr viel, findet Carsten Dufner, der zahlreiche Verbindungen sieht zwischen den notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Regenwalds und dem ganz alten Wissen.
Indigene kämpfen ihren Kampf für alle Menschen
Die Bedeutung dieses Buches könne gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagte Sérgio Costa, Soziologe am Lateinamerika-Institut der FU Berlin, anlässlich der Präsentation von "Der Sturz des Himmels" im September 2024 in der brasilianischen Botschaft in Berlin. Bereits 2010 war das französische Original erschienen, aber 14 Jahre später, in einer Zeit der Klimakatastrophen, der weltweiten Unterdrückung von Minderheiten, der zunehmenden Ausbeutung der Erde, ist es aktueller denn je. Dieses Buch ist, so Botschafter Roberto Jaguraribe, "mehr als ein persönlicher Bericht, es ist eine Beschwerde, ein Schrei, eine Warnung" eines Mannes, der "heute einer der wichtigsten indigenen Führers" sei und der "den Geist und die Weisheit des Yanomami-Volkes repräsentiert: Davi Kopenawa".
Jaguaribe hatte den Autor im Rahmen einer Amazonas-Woche persönlich nach Berlin eingeladen, ebenso wie Joênia Wapixana, Präsidentin der nationalen Stiftung für indigene Völker FUNAI. Der Botschafter verwies auf die schweren Hochwasser Anfang des Jahres im Süden Brasiliens und den Klimawandel. Und machte deutlich, dass mit den Yanomami ein Volk nicht nur für sich selbst und seinen Erhalt kämpft, sondern dass es für den Wald eintritt, der zu ihnen gehört und damit auch für uns alle, die von dieser grünen Lunge unserer Welt profitieren.
Die Betroffenen kommen selbst zu Wort
Das Einzigartige an diesem Buch ist: Es wird nicht wieder einmal über die indigenen Völker gesprochen, sondern sie kommen selbst zu Wort – erstmals in dieser Ausführlichkeit und mit Zeugnis ihrer direkten Betroffenheit. "Worte eines Yanomami-Schamanen", heißt der Untertitel, und das ist mehr als ein Statement zum Regenwald oder einem vom Aussterben betroffenen Volk. Vielmehr bietet das Buch einen tiefen Einblick in die Bedrohungen, denen Menschen in einem von kommerziellen Interessen geleiteten Raubbau täglich ausgesetzt sind. Und es ist eine sehr intime Erzählung vom Denken und Fühlen, von der Weltsicht der Menschen, die sich als eins mit der Natur begreifen und die ohne die brutalen Eingriffe von außen weiterhin die für uns alle lebenswichtigen Regenwälder in Südamerika pflegen und erhalten könnten.
In "Der Sturz des Himmels" erfahren wir, welche Rolle ein Schamane in seiner Gesellschaft spielt, welche (natur-)religiösen Anschauungen seinem Denken zugrunde liegen, wie ein im wahrsten Wortsinne "Clash of Cultures" seine Begegnung mit "den Weißen" bis heute bestimmt. Und wie dieser Mann das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem, was wir "Zivilisation" nennen, immer mehr abgelegt hat, als er begreifen musste, dass das, was der Globale Norden unter dieser Zivilisation versteht, eher Epidemien, Abholzung, Vertreibung und Tod als Fortschritt bedeutet. Und dass er mit seinem Blick auf die Welt in heutige Überlegungen zu Nachhaltigkeit, Biodiversität und Toleranz viel besser zu passen scheint als die, die unter dem Deckmantel der Zivilisation der letzten Ausbeutung fossiler Güter nachjagen.
Was hat Schamanismus mit wissenschaftlicher Literatur zu tun?
Was sich zunächst anhört wie ein Ausflug in esoterische Welten, ist in Wahrheit das Ergebnis eines Jahrzehnte andauernden anthropologischen Projekts: Kopenawa ist nicht der einzige Autor dieses Buches, auch wenn er es seine Erzählungen sind, die im Mittelpunkt des Buches stehen. An seiner Seite: der französische Anthropologe Bruce Albert, der sein ganzes Leben und seine Forschung dem Thema der indigenen Völker gewidmet hat. Seit 1975 beschäftigt er sich mit den Yanomami, ist seither jedes Jahr mindestens einmal bei ihnen gewesen und kennt ihr Denken und Handeln nicht nur aus Berichten.
Umgekehrt hat es auch Kopenawa, vor allem in den 80er und 90er Jahren, in die "Welt der Weißen" verschlagen, hat unzählige Vorträge gehalten, sodass auch er für sich beanspruchen kann, die "andere Seite" zu kennen. Aus diesem tiefen Verständnis füreinander entstand in Gesprächen der beiden zwischen 1989 und 2001 dieses Buch, das neben der reinen Erzählung auch umfassende wissenschaftliche Erklärungen, Anmerkungen und Quellenangaben und ein Glossar liefert.
Ein episches Werk
Gerade weil das Buch kein pseudowissenschaftlicher Ratgeber ist à la "Das Geheimnis der Schamanen-Bäume", zieht es in seinen Bann. In einer Erzählweise, die sich Zeit lässt wie die großen Sagen der Menschheit, nehmen uns Kopinava und Albert, deren Buch epenhafte knappe tausend Seiten umfasst, hinein in eine Welt, die nur bei oberflächlicher Betrachtung wie der Einblick in eine Naturreligion anmutet. Sehr schnell erkennt man aber eine faszinierende Systematik dahinter, einen eigenen Kosmos, der an vielen Stellen Berührungspunkte mit heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufweist – obwohl sich beide Seiten dieser Berührungspunkte gar wahrscheinlich nicht bewusst sind (oder sie sogar ausdrücklich verneinen würden).
Demut vor der Schöpfung
Kopenawa ist ein Mensch mit einem klaren Weltbild. Wie er zu seinen Schlüssen kommt, wird vielen Menschen im Globalen Norden merkwürdig vorkommen, aber die Ergebnisse seiner Haltung liegen sehr nah an dem, was wir für unsere Welt immer wieder einfordern. Ausbeutung der Rohstoffe? Der Schöpfer hat die Erze und Metalle doch bewusst unter die Erde gelegt, damit wir als Menschen nicht daran kommen. Warum sollten wir sie dann abbauen?
Oder die Bienen – in seiner Welt wie in der unserer Wissenschaft zentraler Dreh- und Angelpunkt von Biodiversität. Bei ihm liest sich das so: "Die Bienen sind sehr klug und arbeiten pausenlos in den Blüten, nach denen sie in der Ferne von Baum zu Baum suchen, um ihren Honig herzustellen. Bäume zu fällen, heißt, ihre Wege im Wald zu zerstören. Ohne blühende Bäume wissen sie nicht mehr, wo sie arbeiten sollen, und dann werden sie für immer von unserer Erde fliehen."
"Es ist gut, dass wir mit den Ureinwohnern in Brasilien Menschen haben, die den Wald schützen wollen", sagte Botschafter Jaguaribe bei der Buchpräsentation. Nach Lektüre des Buchs kann man ihm nur zustimmen.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 04. Dezember 2024 | 15:45 Uhr
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