Ökologische Katastrophe Dramatisches Insektensterben ist ein Fakt!
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19. Oktober 2017, 16:30 Uhr
Noch vor kurzem zweifelten viele die Hiobsbotschaft an. Die erhobenen Daten zum Insektensterben seien so nicht haltbar, alles sei nicht wissenschaftlich genug. Eine neue, mehrfach begutachtete Studie belegt jedoch unstrittig: Wir haben etwa 75 Prozent unserer Insektenbiomasse in den letzten 30 Jahren verloren.
Bereits im Sommer diesen Jahres hatte der Krefelder Entomologische Verein mit seiner Langzeitstudie Zahlen für den Insektenschwund in Deutschland vorgelegt. Über 27 Jahre lang hatten die Mitglieder in ehrenamtlicher Arbeit Insektenbiomasse an 63 verschiedenen Standorten in ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch im gesamten Rheinland und anderen Bundesländern Nordwestdeutschlands gemessen. Von einem Rückgang um 70 bis 80 Prozent war damals die Rede - Zahlen, die Kritiker auf den Plan riefen, die aber ohne das ehrenamtliche Engagement der Insektenfreunde nicht denkbar gewesen wären.
Wissenschaftler aus aller Welt interessierten sich für die Ergebnisse. Nun veröffentlichten Forscher aus den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland eine Studie in der internationalen Fachzeitschrift PLOS ONE, die das Ergebnis der Insektenfreunde bestätigt. Demzufolge haben wir seit den 1990er-Jahren 76 bis 81 Prozent der Biomasse an Fluginsekten verloren. Professor Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle bewertet die Ergebnisse als repräsentativ für Deutschland.
Die vorliegende Arbeit hat eine extrem große Datenbasis aus 90 Standorten über verschiedene Regionen verteilt. Und die zeigt einen ziemlich ähnlichen Trend, wie die Einzelstudie aus Krefeld auch.
Die Frage nach den Ursachen ist nicht eindeutig zu beantworten, zu viele Faktoren wie Klimawandel, Veränderungen in der Landschaft und die intensive Landwirtschaft spielen eine Rolle. Nicht alle konnten in der Studie umfassend betrachtet werden.
Die Schuldfrage: Ist es das Klima? Oder die Landwirtschaft?
Dass es das Klima ist, das den Insekten zu schaffen macht, konnten die Autoren der Studie weder beweisen, noch belegen. Dazu wären noch weitere Analysen nötig.
Der Klimawandel dürfte sicherlich nicht der Hauptfaktor sein. Da spielen eher Landschaft und Landnutzung eine Rolle. Hier geht es um sehr viele Faktoren und vor allem viele sehr schwer zu fassende. Haben wir am untersuchten Standort zum Beispiel große Wald-, Grün- und Ackerflächen oder viele kleine? Wie kommen die Insekten damit zurecht?
Der Naturschutzbund (NABU) grenzt seine Vermutungen im Hinblick auf die Ursache da schon eher ein: die intensive Landwirtschaft.
Alle Standorte, die untersucht worden sind, sind zu mehr als 90 Prozent von konventioneller Landwirtschaft umgeben. Das legt den negativen Einfluss der Agrarnutzung nahe.
Dies bringe den Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln mit sich, aber auch eine Monokultur, die den Insekten kaum noch Nahrungs- und Nistmöglichkeiten bietet. NABU-Präsident Tschimpke fordert einen Kurswechsel in der Agrarpolitik - und zwar europaweit. Und schließlich braucht die Landwirtschaft die Insekten als Bestäuber. Keine fliegenden Insekten - kein Obst und Gemüse.
Ohne Insekten ist nur noch eine Landwirtschaft möglich, die im wesentlichen Kohlenhydrat-Produkte herstellt: Weizen, Hafer, Getreidearten, Reis, Mais – alle die, die keine Bestäubung durch Tiere brauchen, sondern windbestäubt sind.
Und auch den Tieren fehlt ohne Insekten ein unersetzbares Glied der Nahrungskette. Wenn die Entwicklung also anhält droht womöglich einigen Arten das Aussterben. Der Bruterfolg der Rauchschwalben zum Beispiel geht bereits zurück, weil sie besonders für ihr erstes Gelege nicht ausreichend fliegende Insekten finden. Die Jungen verhungern.
12,7 Millionen Vogelbrutpaare verschiedener Arten sind laut NABU zwischen 1998 und 2009 verschwunden. Vogelschutzexperte Lars Lachmann sieht einen Zusammenhang zum Insektensterben.
Dass das Insektensterben auch ein Vogelsterben nach sich zieht, ist sehr wahrscheinlich. Fast alle betroffenen Arten füttern zumindest ihre Jungen mit Insekten.
Keine Insekten, keine Vögel, keine Früchte und weitere noch gar nicht absehbare Folgen für unsere Ökosysteme - das ist ein düsteres Zuskunfstszenario. Professor Dave Goulson von der Sussex University und Co-Autor der aktuellen Studie beschreibt es so:
Insekten machen etwa zwei Drittel allen Lebens auf der Erde aus. Wenn wir so weitermachen, halten wir Kurs auf ein ökologisches Armageddon.
Naturschutzverbände und Wissenschaftler fordern flächendeckend eine moderatere Landwirtschaft, die mehr Vielfalt erlaubt und auf Gifte verzichtet. Vor allem Neonikotinoide, hochwirksame Insektengifte, müssten umgehend vom Markt genommen werden, fordert zum Beispiel der NABU. Außerdem sollten landwirtschaftliche Flächen, die an Schutzgebiete Grenzen, besonders sensibel behandelt werden. Für sie gelten in Deutschland keine besonderen Auflagen. Es gibt jedoch ein Projekt, das hoffen lässt:
Mehr Geld für die Wissenschaft
Die Langzeitstudie der Krefelder Entomologen hatte mit ihren Ergebnissen die Blicke der Naturschützer und der Wissenschaft auf sich gelenkt. Um die Entwicklung des Insektenbestandes langfristig weiter beobachten und die Auswirkung von Maßnahmen untersuchen zu können, werden nun Forderungen nach mehr Aufmerksamkeit und Geld für die Forschung laut.
Es ist dringend nötig, derartige Monitorings systematisch aufzubauen - als öffentliche Aufgabe mit öffentlichen Geldern. Bislang waren Fördergelder für solche Studien nur schwer bis überhaupt nicht zu bekommen.
Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im : Radio | 19.10.2017 | 18:24 Uhr