Sars-CoV-2 Wie lange müssen die Corona-Ausgangssperren bleiben?
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26. März 2020, 12:26 Uhr
Seit dieser Woche gelten bundesweit Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Ein Team aus Wissenschaftlern unter der Leitung von Neil Ferguson vom Imperial College London hat berechnet, wie sich bestimmte Maßnahmen der Regierung auf die Infektionsraten und Krankenhauseinlieferungen in Großbrittannien und den USA auswirken. Die Modellrechnungen verraten, wie streng und wie lange diese Maßnahmen aufrecht erhalten werden müssen.
Inhalt des Artikels:
- Wenn die Regierung nichts täte
- Maßnahmen alleine bringen nichts
- Kombination vieler Maßnahmen verzögert den Ausbruch
- Was passiert bei einem kompletten Kontaktverbot?
- Flexible Maßnahmen: Ist das die Lösung?
- Ausgangsperren und Freiheit im Wechsel - eine Gesellschaft im Pendelsystem?
- Wie würden sich Massen-Tests auswirken
- Schulen geschlossen halten oder nicht?
- Kritik an der Studie
- Und nun?
- Hoffen auf bessere Daten und mehr Informationen
Wie lange müssten Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote aufrecht erhalten werden, um die Corona-Pandemie tatsächlich eindämmen zu können? Wissenschaftler haben unter der Leitung von Neil Ferguson vier Szenarien untersucht, bei denen sich die Regierung zu entweder keiner, nur einzelnen oder kombinierten Maßnahmen entschließt. Einzelne Optionen waren dabei die Isolation von bestätigten Fällen mit und ohne vollständiger Isolierung der verdächtigen Haushalte, die Schließung von Schulen und Universitäten und das sogenannte "social distancing", also, wenn Risikogruppen oder aber die gesamte Bevölkerung den sozialen Kontakt reduzieren.
Wenn die Regierung nichts täte
Ohne jegliche regulatorische Maßnahme würde sich das Virus exponentiell verbreiten. Die Zahl der Menschen, die Ärzte im Krankenhaus betreuen und beatmen müssen, würde dabei um ein Vielfaches die eigentliche Kapazität der Krankenhäuser übersteigen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass in diesem Fall über zwei Millionen Menschen der Risikogruppe in den USA und eine halbe Millionen Menschen in Großbritanniennicht die Behandlung bekommen würden, die sie eigentlich benötigen und an den Folgen der Infektionen sterben.
Maßnahmen alleine bringen nichts
Den Forschern nach reicht eine Beschränkung auf einzelne staatliche Maßnahmen nicht aus, die Virusaktivität einzudämmen. Auch mit einer Kombination von Isolation der Verdachtsfälle, Quarantäne von Infizierten und Kontaktreduzierung von über 70-Jährigen gelang es den Experten in ihrer Modellrechnung nicht, die Ausbreitung so stark einzudämmen, dass alle Patienten mit schweren Verläufen versorgt sein würden. Das Ausmaß der Erkrankungen wäre auch in diesen Fällen so groß, dass deutlich zu wenige Intensivbetten zur Verfügung stünden. Teilweise wurde in der Simulation die Kapazität des Gesundheitssystems um das Dreißigfache überschritten.
Zwar ist die Zahl der Intensivbehandlungsplätze in Deutschland fast doppelt so hoch wie in den beiden in der Studie untersuchten Länder Großbritannien und USA. Ein derartig hoher Bedarf innerhalb kurzer Zeit würde jedoch auch das deutsche Gesundheitssystem nachhaltig überfordern.
Kombination vieler Maßnahmen verzögert den Ausbruch
Die Wissenschaftler variierten in der Studie die Dauer und die Anzahl der ergriffenen Maßnahmen. Dadurch zeigte sich, dass eine Schließung von Schulen und Universitäten, eine Isolierung der Infizierten und eine generelle Kontaktdistanzierung in der gesamten Bevölkerung die Verlaufskurve unter der Kapazitätsgrenze halten könnte. Dadurch bildeten sich jedoch kaum Immunitäten. Außerdem stiegen die Infektionszahlen rapide an, sobald die Maßnahmen beendet wurden. Laut den aktuellen Einschätzungen der Autoren der Studie sei die Epidemie erst dann vorbei, wenn etwa 70 Prozent der Bevölkerung immun gegen das Virus sind. Erst dann findet das Virus zu wenig Menschen, die es anstecken und sich so weiterverbeiten kann. Das Problem wurde in diesem Fall nur verschoben aber nicht gelöst. Durch das Aufschieben der Masseninfektionen entstünde insgesamt jedoch ein Vorteil. Die Forschung gewänne Zeit zur Entwicklung eines Impfstoffs.
Was passiert bei einem kompletten Kontaktverbot?
Naturgemäß würde ein vollständiges Kontaktverbot die Ausbreitung des Virus am besten verhindern. Die entscheidende Frage dabei ist jedoch, wie lange eine Gesellschaft einen solchen "Lockdown" aushalten würde, bevor sie zerbricht. Experten gehen davon aus, dass die Entwicklung des Impfstoffs mindestens ein Jahr dauere. So lange ließe sich allerdings weder national noch international ein Ausnahmezustand aufrechterhalten. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen wären enorm. Hinzu käme, dass durch die dauerhafte Isolierung die Wahrscheinlichkeit von psychischen Krankheiten, wie Depressionen oder akutem Bewegungsmangel ansteigt. Das Ziel sollte sein, realistische Maßnahmen zu treffen, die über einen längeren Zeitraum durchgehalten werden können, die Grundimmunisierung der Bevölkerung zu erhöhen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Flexible Maßnahmen: Ist das die Lösung?
Auf Grundlage ihrer Ergebnisse schlagen die Londoner Forscher eine flexible Strategie im Kampf gegen den Coronavirus vor. Schulen und Universitäten sollten über einen längeren Zeitraum immer wieder geöffnet und geschlossen werden, ebenso sollten Kontakte periodisch reguliert werden. Die Bevölkerung würde sich schrittweise mit dem Virus infizieren und damit immun gegen die Seuche werden. Dieser Prozess würde solange andauern, bis entweder der Großteil der Bevölkerung infiziert oder ein Impfstoff verfügbar ist. Die genaue Dauer dieses Prozesses ist unklar. Die Wissenschaftler schlagen vor, in zwei Drittel der gesamten Zeitspanne alle vier Maßnahmen durchzuführen, in dem restlichen Drittel würden Quarantäne der Infizierten und deren Haushalte ausreichen. Sobald die Infektionszahlen "ausreichend sinken", würden die staatlichen Regeln gelockert, sobald die Fallzahlen "gefährlich steigen" wieder eingeführt. Immerhin wären in dieser zweiten Infektionswelle viele Menschen bereits immun - beispielsweise Ärzte, die nun risikoloser arbeiten könnten.
Ausgangsperren und Freiheit im Wechsel - eine Gesellschaft im Pendelsystem?
Die Gesellschaft könnte sich nach Aufhebung der jetzt geltenten Beschränkungen als auf eine Art Pendelsystem einstellen müssen. Das gesellschaftliche Leben würde an- und ausgeknipst. Corona würde solange das Leben aller Menschen dominieren, solange es noch keinen Impfstoff gibt, und die Bevölkerung in Gänze noch nicht immun ist. Die Folgen, die ein solches, dem jeweiligen Infektionsstand angepasstes System hätte, bleiben unklar. Die Forscher bezogen zu erwartende wirtschaftliche Folgen nicht in ihr System. Auch gesundheitliche Aspekte, etwa das dauerhafte Verschieben von ärztlichen Behandlungen wegen der vorrangigen Versorgung von COVID-Kranken, blieben unbeachtet.
Wie würden sich Massen-Tests auswirken
Eine Maßnahme haben die Wissenschaftler um Ferguson nicht mit einberechnet. Eine umfangreiche Testung der Bevölkerung auf das Coronavirus könnte einen Hinweis darauf geben, wer das Virus in sich trägt und ansteckend ist. Wer dann in Quarantäne sitzt, kann weniger Menschen anstecken. Und wenn jemand weiß, dass er positiv ist, wird er sein Verhalten mit höherer Wahrscheinlichkeit ändern, als wenn er nur ein Verdachtsfall ist.
Schulen geschlossen halten oder nicht?
Unabhängig von den Londoner Modellrechnungen bleibt unter Experten auch die Frage strittig, ob Kinder weiter zur Schule gehen sollten oder nicht. Die europäischen Staaten gehen unterschiedlich damit um. Nach Schätzungen der UNESCO geht eine halbe Milliarde Kinder weltweit momentan wegen Corona nicht zur Schule. In Schweden beispielsweise gehen Kinder jedoch noch zur Schule. Forscher sehen besonders kleine Kinder momentan als nicht gefährdet. Es gilt aber zugleich als höchst unsicher, inwieweit infizierte Menschen, die keine oder nur milde Symptome zeigen, den Virus übertragen. Dieses Wissen ist jedoch nötig, um zu klären, welchen Beitrag Kinder bei der Virusübertragung leisten.
Wie groß die Forschungslücke hinsichtlich einer solchen Virusübertragung ist, zeigt eine aktuelle Studie aus China. Die Wissenschaftler nutzten die statistischen Daten für eigene Modellrechnungen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent sämtlicher Infektionen in ihrem Land nicht diagnostiziert wurden – und, dass diese unerkannten Fälle einen großen Anteil an der weltweiten Ausbreitung hatten.
Kritik an der Studie
Inzwischen haben auch andere Wissenschaftler die Studie von Ferguson und seinen Kollegen begutachtet. Auch wenn diese Gutachter die Forderung an die Politik für völlig richtig halten, mit drastischen Maßnahmen die Ausbreitung von Sars-CoV-2 einzudämmen, so kritisieren sie einige Annahmen und Schlussfolgerungen in der Modellrechnung. So würden einige mögliche Gegenmaßnahmen wie konsequente Kontakverfolgung bei infizierten Personen nicht in die Überlegungen einbezogen. Außerdem sei es möglich, durch konsequente Lockdowns das Virus so zu isolieren, dass es praktisch komplett ausgerottet und wieder aufflammende Ausbreitungen verhindert werden könnten.
Und nun?
Es gibt also Experten, die glauben, dass mit einer Reduktion von sozialen Kontakten die Ausbreitung des Coronavirus noch ganz zu stoppen ist. Zumindest könnte dadurch die Zahl der Toten drastisch reduziert werden. Allerdings seien diese strengen Maßnahmen für einen Zeitraum von mindestens 300 Tagen nötig, heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie. Erst dann gäbe es keine Infizierten mehr.
Zusätzlich müssten ab dann alle Einreisenden und Heimkehrer ohne Ausnahme getestet und vorsorglich inklusive des Haushalts für zwei Wochen in Quarantäne isoliert werden, um eine erneute Ausbreitung zu verhindern. Und das so lange, bis es weltweit keine neuen Fälle mehr gibt und der Virus weltweit als ausgerottet erklärt wird. Eine Gefahr bleibe dann laut Experten noch. Sobald ein Ausbruch wieder außer Kontrolle gerät, geht das "Spiel" von vorne los.
Hoffen auf bessere Daten und mehr Informationen
Um die aktuelle Situation zu beurteilen, brauchen Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger möglichst viele, verlässliche Daten. Denn eine Epidemie verläuft in jedem Land unterschiedlich. Das hängt beispielsweise von der Altersstruktur der Bevölkerung, dem Gesundheitssystem oder der Mobilität ab.
Bislang weichen die Angaben über den Verstorben-Anteil durch das Coronavirus stark voneinander ab. Während von den bekannten Fällen in der chinesischen Provinz Hubei etwa fünf Prozent gestorben sind, sprechen die Zahlen für ganz China von nur 0,8 Prozent. Diese Differenz liese sich entweder auf eine höhere Sterberate in der Provinz oder durch die zu geringe Zahl der bekannten Fällen zurückweisen, so die Forscher.
Die Entwicklung in Südkorea zeigt, dass auch ohne komplette Abriegelung wie in Wuhan eine Eindämmung möglich ist. Südkorea hat in kurzer Zeit sehr viele Tests durchgeführt, auch um die positiven Fälle und Ansteckungsketten zu verfolgen – wie es scheint mit Erfolg.
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Datenlage in den nächsten Wochen und Monaten verbessert. Sie hoffen, ein genaueres Bild über die Sterblichkeit und die Zahl der Menschen zu haben, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Außerdem könnten die bisherigen Maßnahmen evaluiert und dann nachjustiert werden. Das könnte den Epidemiologen nicht nur helfen, ihre Modelle zu verbessern, sondern beeinflusst, welche Maßnahmen wann und wie lange nötig sind.
Neben dem direkten Virus-Nachweis sind außerdem auch serologische Schnelltests auf Antikörper sinnvoll. Mit ihnen könnten Menschen in wenigen Minuten und selbstständig nachweisen, dass sie bereits angesteckt waren und damit bereits immun gegen SARS-CoV-2 sind. Wichtig ist das auch, um zu wissen, wie viele Menschen ohne Symptome oder Erkrankung an Covid-19 trotzdem infiziert waren. Schätzungen gehen momentan noch von einem Drittel Infizierten aus, die keine Symptome zeigen.
Bisher verfügbare Tests haben jedoch eine geringe Trefferquote. Ein positiver Test spricht für Immunität, ein negativer Test schließt aber nicht aus, dass die Person infiziert war oder noch ansteckend ist. Experten rechnen jedoch in ein bis zwei Monaten mit solchen Tests.
Mathias Tertilt, Rainer Erices, Andrea Wille, MDR, fg, quarks