Citizen Science Dilemma: Wie Bürgerwissenschaften verzerrte Daten liefern
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04. Januar 2022, 16:38 Uhr
Insekten zählen macht da Spaß, wo sich viele Bienen, Hummeln, Käfer herumtreiben. Deswegen gehen wir bei Zählaktionen dahin, wo wir garantiert viele sehen. Wie aussagekräftig sind Citizen Sciene Projekte dann überhaupt?
Wie steht es um die Insektenwelt, die Artenvielfalt bei den Vögeln, den Schmetterlingen? Und wenn wir sie zählen, zum Beispiel für ein Citizen Science Projekt, wie gut spiegeln sich da tatsächlich Trends wieder, wie verlässlich sind die Aussagen zum Zustand der Natur, Trends zum Vorkommen verschiedener Arten? Forschungen des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig und der Universität Halle-Wittenberg geben Anlass zur Skepsis. In einer Studie wurde der "Standort-Bias" untersucht, also die Verzerrung, die entsteht, wenn Daten über Artenvielfalt an Orten erhoben werden, die nicht den Normalzustand repräsentieren. Studienerstautorin Dr. Andrea Mentges vom iDiv verdeutlicht das Problem:
Wenn wir Messungen zur Biodiversität an Orten durchführen, an denen ungewöhnlich viele Arten vorkommen, ist es statistisch gesehen wahrscheinlicher, dass wir mit der Zeit einen Rückgang der Zahl der Arten feststellen.
Also konkret: Wenn wir uns zum Insektenzählen in einen Blühstreifen oder einen Park setzen, sehen wir wahrscheinlich mehr Schmetterlinge als auf der kleinen Wiese neben dem Supermarktparkplatz oder der Tankstelle. Also ist Insektenzählen Quatsch? Es kommt auf die Art der Datennutzung an, sagt Mentges. Daten von Citizen Science Projekten, bei denen Parks oder eigene Gärten als Zählorte vorgeschlagen werden, sind nützlich.
Dann, wenn man daraus ablesen will, ob zum Beispiel bestimmte Schmetterlingsarten wie der Braune Fuchs noch in der Gegend vorkommen oder sich neue Arten angesiedelt haben, sagt Mentges. Und sie stellt auch klar:
Aber wenn wir diese Daten dafür nutzen zu untersuchen, ob die Gesamtzahl der Schmetterlinge in der Region zu- oder abnimmt, liegen wir möglicherweise falsch.
Als Quellen solcher Verzerrungen hat das Forschungsteam vier mögliche "Lieferanten" identifiziert: Citizen Science Projekte, Museen, National-Park Monitorings und akademische Forschung. Der Studie zufolge lieferten 82 Prozent der Citizen Sciene Projekte potentiell verzerrte Ergebnisse. Freie Standortwahl zur Beobachtung boten 36 Prozent der untersuchten Projekte an - und nur bei der Hälfte davon gab es Schulungen dazu oder Hinweise auf repräsentative Standorte für die Untersuchung, wie zum Beispiel beim Feldhamster-Citizen Science-Projekt: Hier geht man gemeinsam mit Experten auf vorgegebenen Flächen auf die Suche nach Bauten der kleinen Nager.
Lässt sich die Verzerrung verhindern oder minimieren?
Könnte man die Verzerrung durch die freie Auswahl der Beobachtungsorte verhindern oder wenigstens verringern? Zum einen, indem man die freiwilligen Forscherinnen und Forscher darauf hinweist, normale Naturorte für ihre Beobachtungen zu nutzen und sie nicht gezielt in Parks oder auf Blühwiesen schickt. Theoretisch sind den Forschern zufolge dafür auch Schulungen denkbar, die die Standort-Auswahl thematisieren. Oder man gibt direkt konkrete Orte vor, an denen gesucht, gezählt, geforscht werden soll, wie Jonathan Chase, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversitätssynthese am iDiv, sagt:
Am objektivsten wäre eine systematische und computerbasierte Zuordnung der Standorte, an denen Daten gesammelt werden sollen.
So würden bei Forschungs-Wiederholungen an gleichen Orten Entwicklungen sichtbar - also, ob mehr Heuschrecken oder weniger neben der Bushaltestelle im Gras zirpen. Auch die Erfassung über größere Flächen würde die Verzerrung entschärfen, schreiben die Forscher, und wenn man die ersten Zähl-Zeitpunkte einer Untersuchungsreihe nicht ins Gesamtbild mit einbeziehen würde.
Wie würde das bei Bürgerwissenschaftlern ankommen, wenn sie wissenschaftlich ausgewählte Orte, wie die Wiese hinter dem Plattenbau oder der Tankstelle, ansteuern sollen? Wer Insekten zählt, will einerseits "Erfolgserlebnisse", und sucht nach Vielfalt. Wer will seine Freizeit an einem unattraktiven Standort verbringen, der Brache neben dem Baumarkt oder einer Wiese, die nicht viel Artenvielfalt verspricht? Noch dazu mit der Aussicht, dort im Suchzeitraum kaum ein Insekt zu sichten? In der Forschung ist man sich dieses Dilemmas bewusst, oder wie es Wissenschaftler Jonathan Chase formuliert: "Es ist ein schmaler Grat zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und praktischer Anwendbarkeit."
Die Studie zu Verzerrungseffekten bei Citizen Science Projekten lesen Sie hier.
(lfw)
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