Interview: Groß-Experiment startet in Deutschland Freitag ist Freutag: Wie wird die Vier-Tage-Woche Realität, Frau Backmann?
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08. September 2023, 16:43 Uhr
Die IG Metall hat sie grad erst gefordert: Für Arbeitnehmende aus mehr als fünfzig deutschen Unternehmen könnte bald die Vier-Tage-Woche Realität werden – unter wissenschaftlicher Aufsicht. Besonders interessant ist dabei der deutsche Mittelstand. Ergebnisse aus Großbritannien klingen schon mal vielversprechend. Umsetzbar ist die Vier-Tage-Woche allerdings nicht für alle von jetzt auf gleich, räumt Julia Backmann ein. Sie begleitet das Projekt wissenschaftlich und ist mit MDR WISSEN im Gespräch.
Nur vier Tage arbeiten, aber volle Bezahlung … … und auch für Unternehmen springt sogar noch was raus: Nämlich volle Arbeitsleistung. Ein groß angelegtes Experiment hat bereits in Großbritannien gezeigt, dass das funktionieren kann. Raus kam nicht nur mehr Lebensqualität für die Arbeitskräfte, sondern sogar eine Umsatzsteigerung von durchschnittlich 1,4 Prozent. Der Pilotversucht kommt jetzt nach Deutschland. Aber wie funktioniert das eigentlich? Und wer profitiert wirklich? Besprechen wir das mit Julia Backmann von der Uni Münster, die das Projekt wissenschaftlich begleitet.
Frau Backmann, jetzt mal ehrlich, wie viel arbeiten Sie denn so?
Julia Backmann: Oh, das variiert! Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich einen 24/7-Job und in anderen Wochen kann ich es deutlich ruhiger angehen lassen. Tatsächlich habe ich keine festgelegten Arbeitszeiten, was mir eine gewisse Flexibilität gibt. Diese Flexibilität schätze ich besonders, weil sie mir erlaubt, mich nicht starr auf die Anzahl meiner Arbeitsstunden zu fixieren. Und so kann ich stressigere Phasen mit entspannteren ausgleichen.
Gerade aus Ihrer Branche, der Wissenschaft, hört man nur allzu gern: Zu viel Arbeit, zu wenig Bezahlung. Mitunter haben Sie auch noch die Medien an der Backe – so wie jetzt grad. Glauben Sie wirklich, Sie würden Ihre Arbeit an vier Tagen schaffen?
Tatsächlich habe ich über genau diese Frage selbst nachgedacht, besonders als ich die wissenschaftliche Begleitung der Pilotstudie in Deutschland zugesagt habe. Bei der Vier-Tage-Woche geht es nicht nur darum, die Arbeitszeit zu reduzieren, sondern auch darum, klüger und effizienter zu arbeiten. Ich gebe zu, auch in meinem Arbeitsalltag gibt es hier sicherlich noch Raum für Optimierungen. Daher sollte hoffentlich auch zukünftig noch das ein oder andere Interview möglich sein. Aber fragen Sie mich dies am besten nochmal in der Hochphase der Studie im kommenden Jahr.
Effizienter arbeiten, sagen Sie. Im Experiment sprechen Sie vom 100-80-100-Prinzip. 100 Prozent Gehalt, 80 Prozent Arbeitszeit, 100 Prozent Leistung. Was ist der Trick daran?
Der Trick an der Methode ist, dass es nicht bloß um eine Reduzierung der Arbeitszeit geht. Dies mag auf den ersten Blick zu gut klingen, um wahr zu sein. Doch es wird erst wirklich umsetzbar, wenn es Hand in Hand mit anderen Veränderungen geht, etwa Anpassungen in den Arbeitsprozessen oder Automatisierung.
Das heißt?
Beispiele für solche Veränderungen sind die Reduzierung von Besprechungen und die Anpassung der Kommunikationsformen. Des Weiteren können spezialisierte Apps genutzt werden, um routinemäßige und zeitaufwendige Aufgaben wie Vertragsmanagement oder Rechnungsstellung zu minimieren oder gar zu automatisieren. Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte "Cross-Training", bei dem Mitarbeiter in den Fähigkeiten und Aufgaben ihrer Kollegen geschult werden, um Flexibilität und Effizienz innerhalb des Teams zu erhöhen und Engpässe bei Abwesenheiten zu vermeiden.
Prof. Dr. Julia Backmann … ist Inhaberin des Lehrstuhls für Transformation in der Arbeitswelt an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie erforscht, wie sich technologischer und gesellschaftlicher Wandel auf Organisationen auswirkt.
In der Wissenschaft, in der Kreativbranche, sagen wir mal: generell am Schreibtisch oder im Sitzsack kann man sich das alles ohne Probleme vorstellen. Jetzt denken wir mal an den Schichtdienst: Gesundheits- und Pflegesystem, Fließband, Badeaufsicht – alles Berufe, in denen man nicht nur für die Arbeitsleistung, sondern auch für die Zeit bezahlt wird. Wie soll das gehen?
Das ist eine berechtigte Frage und auch eine der Fragen, die wir mit der branchenübergreifenden Pilotstudie untersuchen wollen. Die Vier-Tage-Woche ist sicherlich nicht für jeden Berufszweig und jede Branche gleichermaßen geeignet. In Berufen, in denen physische Anwesenheit und Zeitkriterien im Vordergrund stehen, sollte gezielt zusammen mit den Mitarbeitenden an Ideen für eine Umsetzung gearbeitet werden. Die Gesundheitsbranche zeigt zum Beispiel, dass eine Vier-Tage-Woche nicht nur in Bürojobs möglich ist. Einige Krankenhäuser haben bereits eine Vier-Tage-Woche erfolgreich in angepassten Modellen umgesetzt, beispielsweise mit Neun-Stunden-Schichten pro Tag, oder auch im 100-80-100-Prinzip. Zentral ist, dass das Konzept nicht stur auf alle Bereiche übertragen wird, sondern an die jeweiligen Anforderungen und Bedingungen angepasst wird. Letztendlich geht es darum, eine Balance zwischen Mitarbeiterzufriedenheit und betrieblichen Erfordernissen zu schaffen – und das erfordert manchmal kreative Lösungsansätze.
Die Vier-Tage-Woche ist zwar kein Instrument, um die Unterschiede zwischen Berufsfeldern auszugleichen, kann aber an anderer Stelle soziale Kluften schließen
Trotzdem: Es gibt also Branchen, die könnten 100-80-100 ratzefatz umsetzen. Andere nicht. Wie würde sich das Ihrer Meinung nach auf die Kluft zwischen privilegierten und nicht-privilegierten Berufsfeldern auswirken?
Ich gebe Ihnen Recht, dass Branchen, die flexibel genug sind, diese Modelle schnell zu adaptieren, eher profitieren. Aktuell gibt es jedoch nur begrenzte wissenschaftliche Studien zur Umsetzung des Modells außerhalb der typischen Bürojobs. Deshalb setzen wir darauf, dass sich verschiedene Branchen am deutschen Pilotprojekt beteiligen. Das könnte Licht ins Dunkel bringen, was die spezifischen Herausforderungen und potenziellen Lösungen betrifft und uns zeigen, ob es Berufsfelder gibt, für die das Modell ungeeignet ist.
Die Vier-Tage-Woche ist zwar wahrscheinlich kein geeignetes Instrument, um die Unterschiede zwischen Berufsfeldern auszugleichen, kann aber möglicherweise an anderer Stelle soziale Kluften schließen, da sie zum Beispiel für Menschen, die viel private Care-Arbeit leisten, inklusiver ist als die klassische Fünf-Tage-Woche. In diesem Sinne sollte die Vier-Tage-Woche nicht als Allheilmittel betrachtet werden, sondern als ein spannender Ansatz, der bereits vielversprechende Ergebnisse erbracht hat. Um sicherzustellen, dass sich die Unterschiede zwischen den Berufsfeldern nicht vertiefen, sollten Unternehmen generell experimentierfreudig sein und Innovationen in Bezug auf Arbeit angehen. Dies kann durch Initiativen wie Schichtteilung in der Produktion, den Einsatz von Technologien zur Reduzierung physischer Anforderungen oder die Schaffung ansprechender Sozialbereiche im Unternehmen geschehen. Es gibt zahlreiche Ansätze und Beispiele, die mir Hoffnung geben, dass diese Kluft nicht größer wird.
Der Pilotversuch … wird von der Berliner Unternehmensberatung Intraprenör koordiniert und von der Uni Münster wissenschaftlich begleitet. Mehr als fünfzig Unternehmen sollen sich beteiligen, die Bewerbungsphase ist am 1. September gestartet. Die Erprobung des Vier-Tage-Arbeitsmodells findet von Februar bis August 2024 statt.
Haben Sie auch schon Ideen für Selbstständige? Oder sind da alle des eigenen Glückes Schmied?
Selbstständige haben in der Tat eine einzigartige Position, wenn es um Arbeitszeitmodelle geht. Einerseits genießen sie die Freiheit, ihre Arbeitszeiten selbst festzulegen, doch andererseits stehen sie oft unter dem Druck, ständig erreichbar zu sein und möglicherweise überdurchschnittlich viel zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Obwohl Selbstständige in großem Maße selbst für ihren Erfolg verantwortlich sind, bedeutet dies nicht, dass sie von innovativen Arbeitszeitmodellen ausgeschlossen sind. In Studien zur Vier-Tage-Woche, etwa in Großbritannien, haben viele kleine Unternehmen das Modell erprobt und erfolgreich implementiert. Diese Erfahrungen können für Selbstständige wertvoll sein, um ähnliche Ansätze in ihren Berufsalltag zu integrieren. Tatsächlich kenne ich einige Selbstständige, die diesen Arbeitsrhythmus bereits erfolgreich umsetzen.
Sie begleiten das Projekt wissenschaftlich. Was genau schauen Sie sich denn an?
Ein zentrales Anliegen unserer Studie ist es, zu erkennen, welche konkreten Anpassungen die Unternehmen vornehmen, um mit der reduzierten Arbeitszeit umzugehen. Dies betrifft sowohl organisatorische Änderungen als auch kulturelle Anpassungen. Die Zusammenarbeit in Teams unter veränderten Arbeitsbedingungen stellt ebenfalls einen Schwerpunkt dar. Hier möchten wir beleuchten, welche Herausforderungen entstehen und wie sowohl Mitarbeitende als auch Führungskräfte diese meistern. Schließlich, und das ist ein ganz wesentlicher Aspekt, richten wir unseren Blick auf die Mitarbeitenden selbst. Wie wirkt sich das Modell auf ihre Zufriedenheit, ihr Wohlbefinden und ihren Output aus? Dabei denken wir nicht nur an klassische Produktivitätsmaße, sondern auch an Kreativität. Und natürlich wollen wir herausfinden, ob es innerhalb der Unternehmen Unterschiede in der Wahrnehmung und den Auswirkungen zwischen verschiedenen Mitarbeitenden oder Teams gibt.
Versuche hat es schon in anderen Ländern gegeben, die Ergebnisse aus Großbritannien klingen vielversprechend. Machen Sie jetzt einfach eine muntere Blaupause?
Die bisherigen Ergebnisse sind in der Tat spannend. Aber nein, wir machen nicht einfach eine Kopie für Deutschland. Wir stehen zwar in engem Dialog mit den Forschungsteams aus anderen Ländern und ziehen wertvolle Learnings aus ihren Erkenntnissen, aber wir haben auch den Anspruch, die Studie an den spezifischen Kontext und die Besonderheiten des deutschen Arbeitsmarktes anzupassen und weitere Fragestellungen zu entwickeln. Beispielsweise spielen Arbeitnehmervertretungen in Deutschland eine große Rolle. Deshalb sitzen ja auch Gewerkschaftsvertreter im Beirat des Projekts und wir werden uns natürlich mit den Betriebsräten der teilnehmenden Unternehmen abstimmen.
Die Pandemie hat uns gezeigt, dass unser Arbeitsleben und unsere Einstellungen dazu sich rasch ändern können
Auf Unternehmensseite bietet zum Beispiel der für Deutschland typische starke Mittelstand mit seinen Hidden Champions ein besonderes und im internationalen Vergleich einzigartiges Umfeld. Das Boston College wird wie auch in den anderen Ländern ebenfalls eine Untersuchung mit den teilnehmenden Unternehmen in Deutschland durchführen. Durch diese konsistente und einheitliche Herangehensweise wird eine internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus den verschiedenen Pilotprojekten sichergestellt. Dies ermöglicht uns, die Entwicklungen und Ergebnisse in Deutschland in einen globalen Kontext zu setzen und zu verstehen, wo wir im internationalen Vergleich stehen. Zusätzlich zur bereits geplanten Befragung, werden wir weitere Studien durchführen. Falls möglich, würden wir beispielsweise gerne physiologische Daten erheben. So könnten wir prüfen, ob eine Vier-Tage-Woche nicht nur zu einem subjektiven Gefühl der Entspannung führt, sondern auch objektive Anzeichen eines reduzierten Stressempfindens zeigt. Dieser neue Ansatz wird natürlich in Abstimmung mit den teilnehmenden Unternehmen und Proband*innen erfolgen.
Wie verhindern Sie eigentlich, dass sich die Proband*innen im Experiment-Zeitraum anders verhalten als sie das im Alltag täten?
Sie spielen hier wahrscheinlich auf den Hawthorne-Effekt an, das Phänomen, dass sich Menschen in Studien oder bei Beobachtungen anders verhalten, weil sie wissen, dass sie beobachtet werden. Wir sind uns dieser potenziellen Verzerrung bewusst. Es ist in der Tat so, dass kurzfristige Beobachtungen stärker von solchen Effekten betroffen sein können, aber über einen Zeitraum von einem halben Jahr ist die Chance größer, dass sich die Teilnehmenden an die Beobachtungssituation gewöhnen und ihr Verhalten normalisiert. Zusätzlich dazu prüfen wir die Möglichkeit, mit Kontrollgruppen zu arbeiten. Diese würden uns helfen, die Ergebnisse der Proband*innen der Vier-Tage-Woche mit einer anderen Gruppe zu vergleichen, die nicht die gleiche Intervention erfährt.
Zum Schluss die obligatorische Glaskugel: Ab wann arbeiten wir entspannter?
Wann wir entspannter arbeiten? Die Pandemie hat uns gezeigt, dass unser Arbeitsleben und unsere Einstellungen dazu sich rasch ändern können. Seit Beginn der Pandemie spüren viele ein erhöhtes Stressempfinden. Doch genau wie wir uns an neue Arbeitsformen wie das Homeoffice angepasst haben, könnte die Vier-Tage-Woche ein weiterer positiver Schritt in Richtung Entspannung und Ausgleich sein. Ich bin zuversichtlich, dass innovative Ansätze wie diese uns helfen können, das Stresslevel zu reduzieren und die Arbeit für viele angenehmer zu gestalten.
Frau Backmann, vielen Dank! Und frohes Schaffen natürlich.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 07. September 2023 | 16:18 Uhr
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