Mittwoch, 15.05.2024: Der Kuchen
Es ist Sommer. Sie sitzen mit Ihren Nachbarn beim Kaffeetrinken zusammen. Auf dem Tisch duftet der Kaffee. In der Mitte steht ein herrlicher runder Kuchen. Sie wollen sich ein Stück nehmen. Aber welches?
Der Kuchen ist sehr ungleichmäßig geschnitten. Links das Stück ist in etwa normal. Aber rechts davon, das andere ist beinahe doppelt so groß. Ist es nur vergessen worden durchzuschneiden? So ist es nun mal. Da liegt es. Welches nehmen Sie? Das linke, kleine, anständige? Oder das doppelte Riesenstück?
Es wäre eine natürliche Reaktion, sich möglichst schnell das rechte Riesenstück zu krallen. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch. Wer weiß, wann ich wieder was bekomme? Wenn ich es nicht nehme, nimmt es jemand anderes. Ob es für alle reicht, ist doch nicht mein Problem. Hauptsache, ich habe genug.
Wer das linke, kleinere Stück nimmt, beweist eine gute Erziehung. Diese dämpft den Egoismus. Das ist ein Stück Zivilisation. Hoffentlich wurde das schon im Kindergarten oder bei der Mutter gelernt: Langfristig gibt es ein besseres Leben, wenn nicht jeder rafft, was er kriegen kann, sondern wenn wir darauf achten, dass es gerecht zugeht: Rücksicht auf andere nehmen, das Gemeinwohl im Blick haben, die Habgier bezähmen.
Was passiert mit Menschen, die sich immer das größte Stück nehmen? Werden die noch oft eingeladen? Haben die viele Freunde?
Ich denke, dass dieses Prinzip nicht nur beim Kuchen gilt. Das ist im größeren Maßstab genauso. Wer das Motto ausruft "Deutschland zuerst" ist in meinen Augen auch nur so ein unerzogener Rüpel, der sich das größte Stück hamstern will, ohne an die Folgen zu denken.
Nationaler Egoismus ist kurzsichtig und dumm. Wir leben in einer größeren Gemeinschaft. Wenn wir dort fair und gerecht miteinander umgehen, leben wir alle besser. Wie schön ist es, eingeladen zu werden! Satt werden wir praktisch immer - nicht nur vom Kuchen, auch von der Gemeinschaft, in der man aufeinander achtet.