Dienstag, 14.01.2025: Alles hat seine Zeit
Staunend stehe ich in der Werkstatt und blicke mich um. Wie ein Museum, denke ich, oder die Kulisse eines Filmes aus der Kaiserzeit. In der Mitte der große Zuschneidetisch, links an der Wand dutzende Schubkästchen mit Knöpfen, Bordüren, Pasch- und Gurtnägeln, Zierbändern, Haken, Nieten, Ösen.
An der Wand gegenüber hängen die Handwerkszeuge: Polsterhammer, Geißfuß, Ahlen und Schraubenzieher. Zur rechten geht die Tür ins Ladengeschäft; durch das Glasfenster sehe ich einige Ausstellungsstücke und den Verkaufstresen mit der mächtigen Jugendstilkasse.
Der Dielenboden knarzt, der Meister kommt gebückt aus dem Ladengeschäft. Das Rentenalter hat er bereits vor ein paar Jahren erreicht. Er sieht, wie meine Augen über die abgegriffenen Werkzeuge gleiten und die Fülle der in Sütterlin beschrifteten Dosen, Kästchen und Kartons bestaunen. „Ja, anderthalb Jahrhunderte Handwerkstradition sind hier versammelt“, sagt er. „Aber bald ist Schluss.“
Mehr als 50 Jahre als Handwerker stecken in seinen Knochen, das spürt er jeden Tag. Irgendwann geht es eben nicht mehr. Irgendwann ist Schluss. „Aber vor dem Tag graut mir, an dem ich hier endgültig zuschließe, das Licht ausmache.“ Das, was fehlt, ist nicht die Arbeit oder die Kundschaft. Nein, ein Nachfolger fehlt.
Er seufzt: „Ja, es hat eben alles seine Zeit.“ Alles hat seine Zeit, dass wussten auch die Menschen vor über 2.000 Jahren schon. In der Bibel haben sie davon berichtet. Alles ist vergänglich, alles hat seine Zeit, schreibt einer.
Auch ein Familienunternehmen, ein langjähriges Handwerksgeschäft kann an ein Ende kommen. Diese Vergänglichkeit zu akzeptieren tut weh. Und der Abschied kann sehr schwer fallen. „Bisweilen“, so tröstet sich der Meister, „muss etwas zu Ende gehen, damit etwas Neues entstehen kann.“
Es schmerzt zu sehen, für was alles gerade nicht die Zeit ist. „Alles hat seine Zeit“, zitiert er nachdenklich noch einmal die Bibel. Und fügt an: „Aber es gilt eben auch: Meine Zeit steht in Gottes Händen. – auch und gerade jetzt.“