Mittwoch, 17.01.2024: Blind sehen

"Darf ich Sie zu Ihrem Tisch begleiten", fragt der junge Mann die ältere Dame, die unsicher vor der Eingangstür zum Hotelrestaurant steht. "Oh, das wäre sehr freundlich von Ihnen", antwortet die Dame erleichtert. Sie streckt ihre Hand aus in Richtung des jungen Mannes und wendet ihm ihr Gesicht zu. Ihr Blick geht an dem Mann vorbei. Als er sich räuspert, dreht sie den Kopf in die Richtung des Geräusches. "Ich kann sie nicht sehen. Ich bin blind.", sagt sie. "Oh", er erschrickt und fährt beherzt fort: "Dann führe ich Sie!"

Ein Mann mit Brille und dunklen Haaren schaut in die Kamera 2 min
Bildrechte: Thomas Przyluski
2 min

gesprochen von Thomas Przyluski

MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Mi 17.01.2024 05:45Uhr 02:27 min

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Behutsam berührt er ihre Hand, sie tastet nach seinem Arm und hakt sich unter. Während sie laufen redet der junge Mann ununterbrochen; er beschreibt, was er sieht - den sonnigen Raum, den Weg an speisenden Gästen, leeren Tischen, dem Buffet vorbei. An ihrem Tisch angekommen, nimmt er sanft ihre Hand, berührt mit ihr die Tischkante und den Stuhl. Sie ist dankbar für diese Gesten, die ihr Sicherheit geben. "Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?", fragt sie ihn.

Nach 30 Minuten hat sie ihm schon fast ihr ganzes Leben erzählt. Er weiß nun auch, dass sie erst vor wenigen Jahren in Folge einer Krankheit ihr Augenlicht verlor. Ob sie es je wieder bekommen wird? Einige Ärzte geben ihr Hoffnung. "Die Medizin vermag heute so viel", sagt der junge Mann. "Und der Glaube noch viel mehr“, ergänzt die Blinde. Sie wendet ihr Gesicht in die Sonne, die durchs Fenster direkt auf ihren Tisch scheint. Sie genießt die Wärme auf ihrer Haut.

"Glauben Sie denn daran, dass Sie mal wieder sehen können?", fragt er. "Oh, ja,", antwortet sie. "Kennen Sie nicht die Geschichte in der Bibel, wo Jesus einen blinden Mann heilte?" Nach einer Pause fährt sie fort: "Es ist noch nicht die Zeit dafür, das spüre ich, Gott will mir mit meiner Blindheit noch etwas sagen." "Und bis dahin", ergänzt der junge Mann, "nehmen Sie noch Augen und Hände anderer Menschen, um die Welt sehen zu können." "Und mein Herz", sagt die blinde Dame, "ich kann so viel spüren, was andere nur sehen."