Donnerstag, 18.01.2024: Alter Engel
Seit dem frühen Morgen schon schneit es. Jetzt ist es kurz nach 17 Uhr, der Schnee liegt fast kniehoch und es fängt an zu dunkeln. Anna steht an der Haltestelle und wartet auf ihren Bus. Seit vier Monaten lebt sie in dieser Stadt in einem ihr noch immer fremden Land. Leise versinkt die Stadt im Schnee. Sie hört Glockenschläge. 18 Uhr. Seit einer Stunde ist kein Bus mehr vorbeigekommen. Die beiden Damen neben Anna geben das Warten auf, sie laufen los in Richtung Zentrum. Tief gebeugt kämpft sich ein älterer Herr mühsam durch den Schnee, die Mütze tief im Gesicht, der Mantel abgewetzt, am rechten Arm hängt eine prall gefüllte Einkaufstasche. Anna schaut ihm nach und als sie sich wieder umdreht sind auch die restlichen drei Wartenden verschwunden. Es schlägt sieben mal. Tiefe Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Anna friert und ihr Mut sinkt. Auch ein Auto, das sie vielleicht heranwinken könnte, ist in den letzten Stunden nicht zu sehen gewesen.
Aus dem dunklen Schneetreiben taucht auf einmal der alte Mann mit dem schäbigen Mantel wieder auf. Er bleibt neben Anna stehen. "Heute kommt kein Bus mehr", wendet er sich plötzlich an sie. Im Radio habe er gehört, so erzählt er weiter, dass die Verkehrsbetriebe den Busverkehr eingestellt haben. Er macht eine Pause. Er schaut ihr ins Gesicht. "Möchten Sie mit zu uns nach Hause kommen? Sie können bei uns übernachten. Wir wohnen gleich da vorn." Er zeigt mit dem Arm auf das Hochhaus an der nächsten Kreuzung. Annas Herz klopft wild. Im nächsten Augenblick wird sie ruhig. Warum geht sie mit? Hat sie keine Angst? Kennt sie nicht die Geschichten von entführten Frauen? Der Alte läuft langsam voraus und sagt: "Sie brauchen keine Angst zu haben." Und Anna hört: "Fürchte dich nicht!"
Später, als sie im Wohnzimmer des älteren Ehepaares auf der Couch liegt, denkt Anna: Gott schickt also auch Engel, die wie alte gebrechliche Männer in fleckigen Mänteln aussehen.