Donnerstag, 26.10.2023: Entrümpeln
"Im Regal meines Kellers liegt ein Kruzifix. Es stammt von meinen Großeltern. Dem Jesus fehlt ein Bein", so schreibt eine Frau auf der Ratgeberseite einer Wochenzeitung. Sie fragt: "Wohin mit dem Kreuz? Wenn es sich nicht um ein Kruzifix handeln würde, hätte ich es längst entsorgt. (...)" Wohin mit dem Kreuz? Was würden Sie empfehlen? Vielleicht besitzen Sie auch etwas, das Sie an Großmutter oder Großvater erinnert. Vergilbtes Papier, einen Ring, ein paar Hosenträger, einen Fallbleistift, ein Wandbild, einen Sessel, ein Rezeptbuch, ... Dinge, die weder Sie noch andere heute mehr nutzen würden. Die abgegriffen, gar unpraktisch sind und den Geruch der Jahrzehnte tragen.
Ich fühle mit der Keller-Entrümplerin: Wie sie das Kreuz in die Hände - und sich vornimmt: Heute kommt es weg. Endlich mehr Platz. Doch sobald sie es anfasst, das grob gehauene Metall an den Fingerkuppen spürt, sieht sie sich im Haus der Großeltern. Damals vor 50 Jahren. Das Kruzifix hängt über dem Türrahmen. Drinnen steht die Oma, wenn sie kam: "Wie schön, dass Du da bist, meine Kleine!" Und dann schließt sie die Enkelin in die Arme. Dabei hört das Mädchen den Großvater lachen. Und mit der Wärme der Großmutter saugt es auch den Duft der gestärkten Schürze, der Holzvertäfelung im Flur und des frisch gebackenen Pflaumenkuchens ein. Später dann das gemeinsame Tischgebet. Und dieser Spruch, den die Großmutter so oft brachte: "Es ist schon ein Kreuz." Und dann seufzte sie. Sie sagt ihn, wenn sie etwas suchte und nicht gleich fand. Wenn sie und Großvater gestritten hatten. Wenn die Milch übergekocht war. Und als sie später nur noch wenig sah und kaum mehr ihren Sessel verließ. All diese Erinnerungen durchströmen die Entrümplerin, wenn sie das Kruzifix in den Händen hält. "Es ist schon ein Kreuz." Sie lächelt, als sie auf den einbeinigen Jesus schaut. "Bei Dir auch, nicht wahr?"
Der Gottessohn heißt zwar so, aber weder war er perfekt, noch lief alles glatt, von seinem grausamen Sterben ganz zu schweigen. Jesus mit dem einen Bein scheint der Entrümplerin zu antworten: "Ja, manchmal ist es ein Kreuz. Für Dich, für mich, für jeden." Doch er hat das Kreuz überstanden. Auch die Großeltern. Irgendwann ist jeder der beiden in Frieden von der Welt geschieden. Kein Kreuz mehr. Das macht auch der Entrümplerin Hoffnung. Für heute legt sie das Kruzifix wieder zurück ins Kellerregal.