Donnerstag, 30.01.2025: Jordanien
Wir sitzen beim Frühstück. Die beiden Handwerker haben gerade meine Dachziegel durcheinandergebracht. Wir reden über den nächsten Urlaub. "Ich will mal nach Jordanien", sagt der eine. "Da würde ich nie hin", antwortet der andere überrascht. "Wieso nicht", frage ich. Und beiße in ein Brötchen. "Weil es da bestimmt krass ist", sagt er. Und schon sind wir in einem Gespräch über das Land am Jordan.
Drei Männer - drei Brötchen - drei Meinungen. Was uns eint: Alle drei waren wir noch nie in Jordanien. Aber in unseren drei Männerköpfen laufen drei verschiedene Filme ab. Das Programm, was stellen wir uns unter Jordanien vor. Der eine sieht vielleicht Wüsten, Berge und antiken Stätten. Der zweite Araber und verschleierte Frauen, der dritte Städte voller hupender Motorräder und bunter lauter Basare. Würden Jordanier diese Filme sehen können, würden sie wohl nur den Kopf schütteln. Sehr wahrscheinlich hat das, was wir uns da so in unserem Inneren vorspielen, recht wenig mit Jordanien zu tun.
Zumindest einer von uns wir in ein paar Wochen klüger sein. Er wird das Land erlebt haben. Und dann wird sein innerer Film vermutlich von den aktuellen Eindrücken überspielt.
Die Indianer, die zugegebenermaßen sehr weit von Jordanien weg leben, haben ein schönes Sprichwort. "Urteile nie übe einen Menschen, ehe du nicht ein paar Kilometer in seinen Mokassins gelaufen bist."
Jeder Mensch ist ein Original. Mit eigener Geschichte, Herkunft, Macken, Stärken, Träumen. Das erlebe ich bei uns drei brötchenkauenden Männern. Das erlebe ich bei mir im Dorf. Meine Nachbarin, mein Nachbar sind anders als ich. Trotzdem sind wir alle Biederitzer. Und Sachsen-Anhalter. Und Deutsche. Und Europäer. Und Menschen. Was uns eint, ist auch unsere Verschiedenheit.
Unsere Stärke als Mensch besteht darin, dass wir andere Perspektiven einnehmen können und uns selbst nicht zum Maß aller Dinge erheben. Dazu gehört ein neugieriger Blick, der offen ist für neue Erfahrungen und Ansichten.
Der Apostel Paulus hatte es oft mit Menschen zu tun, die es gerne zu einfach hätten. Denen am besten jemand sagt, wie es ist. Sein Rezept ist einfach und schwierig zugleich: "Prüfe alles, das Gute behalte".
Den Indianerspruch mit dem Schuhwechsel in die Mokassins kann man auch auf Länder anwenden. Urteile nie über ein Land, wenn Du es nicht wenigstens ein paar Tage erlebt hast.
Vielleicht müssen die beiden Dachdecker ja noch mal kommen. Zumindest einer, kann dann erzählen, wie es in Jordanien ist und unseren Horizont weiter und nicht enger machen.
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