Woche des Sehens ab 8. Oktober Urlaub mit Behinderung: Blinder Bergsteiger aus Thüringen stürmt Alpengipfel
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08. Oktober 2024, 12:00 Uhr
Die einen mögen es entspannt im Urlaub, andere lieben das Extreme: So wie Hans-Reinhard Hupe aus Kefferhausen im thüringischen Eichsfeld. Der passionierte Marathonläufer ist blind und nahm sich im Sommer die Besteigung eines 3.600 Meter hohen Berges in Österreich vor. Gemeinsam mit fünf anderen stark sehbehinderten Menschen, der jüngste 21 Jahre alt, der älteste 82. Eine Idee, die abenteuerlich klingt. Vor allem wäre sie kaum denkbar ohne das Guide Netzwerk Deutschland, das Hans-Reinhard Hupe gemeinsam mit seiner Frau initiierte.
In Kefferhausen im thüringischen Eichsfeld ist Hans-Reinhard Hupe zu Hause, hier kennt er sozusagen jede Bordsteinkante. Der 62-Jährige hat aber auch Spaß am Reisen, als passionierter Marathonläufer liebt er die Herausforderung. Allerdings braucht er Unterstützung, denn er ist blind. Seine Lebensgefährtin Juliana Löffler begleitet ihn oft. Was beide im Sommer 2024 planen, klingt nach Abenteuer: Gemeinsam mit fünf anderen blinden oder stark sehbehinderten Menschen wollen sie den Großvenediger in den österreichischen Alpen bezwingen.
Mit Seh-Behinderung aktiv bleiben durch das Guide Netzwerk Deutschland
Ein 3.657 Meter hoher Berg, der als "leicht" gilt – aber auch für diese Gruppe? Schließlich geht es um mehr als körperliche Fitness. Doch genau mit der Frage, wie man sie sich auch als Mensch mit Sehbehinderung erhalten kann, fing eigentlich alles an. "Das Problem ist, jemanden zu finden, der mit einem läuft", erklärt Hans-Reinhard Hupe, der wegen einer Netzhauterkrankung vor rund 30 Jahren komplett erblindete. Seine Passion für den Sport blieb.
"Selbst entscheiden, wo man laufen möchte"
Beim Rennsteiglauf zu seinem 50. Geburtstag war Hans-Reinhard Hupe aufgefallen, dass es außer ihm kaum blinde Teilnehmer gab. Auch in seinem Verein, dem Lauf- und Ausdauerclub LAC Eichsfeld stellte sich zunehmend die Frage, wie Mitglieder mit Sehbehinderung überhaupt sportlich aktiv bleiben könnten: trainieren, aber auch an Wettkämpfen teilnehmen oder sich sogar den Traum von der Besteigung eines Alpengipfels erfüllen.
So initiierte er mit seiner Lebensgefährtin und dem Verein das Guide Netzwerk Deutschland, das sehende mit sehbehinderten oder blinden Menschen zusammenbringt, um sie beim Laufen oder Wandern zu unterstützen. Durch ein sogenanntes Führband sind die Zweier-Teams dabei miteinander verbunden.
"Das Guide Netzwerk Deutschland schafft für behinderte Menschen mehr Unabhängigkeit: dass man selbst entscheiden kann, wo man laufen möchte", erläutert Hans-Reinhard Hupe.
Das Guide Netzwerk Deutschland schafft mehr Unabhängigkeit für sehbehinderte oder blinde Menschen.
Inzwischen mehr als 1.000 Mitglieder im Netzwerk
Über 1.000 Mitglieder hat das inzwischen bundesweite Netzwerk, wie er stolz berichtet. So sei es sehbehinderten Sportlerinnen und Sportlern möglich, andernorts an Veranstaltungen teilzunehmen, wenn der heimische Guide einen mal nicht begleiten könne. Im Januar 2024 wurden Hupe und Löffler mit ihrem Verein, dem LAC Eichsfeld, mit dem Großen Stern des Sports in Gold ausgezeichnet.
Dass es so durch die Decke geht, haben wir nicht gedacht. Aber wir dachten, dass es wichtig ist und dass wir es brauchen.
Verbunden war damit ein Preisgeld von 10.000 Euro für den Verein, der inzwischen Schulungen und Ausrüstung anbietet und das Netzwerk auf die Sportarten Ski alpin und Ski nordisch erweitern konnte. Schwimmen und Radfahren sollen folgen.
Gipfelsturm in Österreich: Verein Pro Retina will Mut machen
Auch zur Großvenediger-Besteigung kommen Guides aus dem Netzwerk mit. Bei den letzten Vorbereitungen in Kefferhausen werden noch einige der gelben Doppelführbänder hergestellt. "Ich lasse alles auf mich zukommen", meint Hans-Reinhard Hupe, der genau wie seine Lebensgefährtin noch wenig Berg-Erfahrung hat.
Im Juni 2024 ist es dann soweit: Begleitet von zwei Bergführern und jeweils verbunden mit einem Guide gehen sie an den Start, sechs sehbehinderte oder blinde Menschen; der jüngste 21, der älteste 82 Jahre alt. Die Abenteuerreise kostet sie nichts. Die Selbsthilfe-Vereinigung Pro Retina hat sie organisiert und über Spenden finanziert, um zu zeigen, was blinde und sehbehinderte Menschen schaffen können. Und um Mut zu machen, sich etwas zu trauen.
Jeder Schritt braucht Konzentration im Team
Vor allem Durchhaltevermögen braucht es dann, um das Tagesziel, die Hütte Defreggerhaus auf 3.000 Metern Höhe, zu erreichen. Sechs Stunden haben die Wanderer für den Aufstieg geplant. Bald muss die Gruppe Tempo machen, als ein Gewitter aufzieht. Nach der Pause in der Schutzhütte geht es weiter. Inzwischen erweist sich der anfangs breite Weg als anspruchsvoll, nichts ist mehr barrierefrei. Jeder Schritt braucht viel Konzentration, Hilfestellung vom Guide und damit mehr Zeit als geplant.
Hans-Reinhard Hupe, der erst mit Mitte 30 vollständig erblindete, bringt seine Wahrnehmung am Berg mit den alten Bildern im Kopf zusammen, den Bergbach, den er plätschern hört oder die Felsbrocken, die er unter seinen Füßen spürt.
"Dass wir das geschafft haben!"
Der älteste Teilnehmer, Helmut Glaser, entscheidet sich nach dem ersten Tag zur Umkehr, doch auch der jüngste spürt seine Grenzen: "Irgendwie geht die Konzentration flöten", meint Hannes Wohlmacher. Da hat das Team über 1.000 Höhenmeter bewältigt und läuft nun über Schnee-Reste, was das Gehen nochmal schwieriger macht. Statt sechs brauchen sie zwölf Stunden, bis sie das Defreggerhaus zur Übernachtung erreichen. Am nächsten Morgen geht es trotzdem weiter, die Gruppe bricht auf zur letzten Etappe zum Gipfel, der über eine Steilstufe und ein Schneefeld führt.
Das gesicherte Abseilen dauert länger als gedacht. Inzwischen herrschen gerade mal 1, 2 Grad. Das Wetter ist schlecht. Am Ende können und wollen von den sechs sehbehinderten Wanderern nur zwei den Weg mit ihren Guides zu Ende gehen. Dazu gehören auch Hans-Reinhard Hupe und Juliana Löffler, die mit den anderen jubeln als das Gipfelkreuz endlich im Nebel auftaucht.
"Dass wir das geschafft haben, das ist toll. Auf dem letzten Stück kamen dann so die Gefühle hoch: Es geht doch!", sagt Hans-Reinhard Hupe über die Bezwingung seines ersten Alpengipfels.
Die fünfte Staffel
Mehr zum Thema: Retina, Selbsthilfe, Guide Netzwerk Deutschland
Vier Millionen Deutsche leiden an altersbedingter Netzhautdegeneration, einer Krankheit, die zur Erblindung führen kann.
Der Internationale Tag der Netzhaut wird seit 1994 jährlich am letzten Samstag im September begangen.
Unterstützung finden Betroffene und deren Angehörige in der Selbsthilfe-Vereinigung Retina.DE mit 6.000 Mitgliedern und vielen Regionalgruppen, die einladen zu Sprechstunden und Veranstaltungen oder über Hilfsmittel informieren. Auf der Website findet sich auch ein Überblick zu den Beratungs-Angeboten.
Für sehbehinderte oder blinde Sportler und Sportlerinnen bietet das Guide Netzwerk Deutschland Hilfe.
Für die Initiative gab es den Großen Stern des Sports in Gold.
Außerdem findet am 16. November 2024, 10 bis 14:30 Uhr ein Retina-Informationstag an der TU Dresden statt. Ausgerichtet vom Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD), Fetscherstr. 105, 01307 Dresden, der auch online besucht werden kann.
Am 8. Oktober startet die 23. Woche des Sehens mit Veranstaltungen in ganz Deutschland. Über acht Tage hinweg informieren Selbsthilfeorganisationen gemeinsam mit Experten aus der Augenmedizin über Augengesundheit und Augenerkrankungen, Prävention, Therapien und Hilfsangebote.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 06. Oktober 2024 | 08:00 Uhr