Interview Regisseurin Antje Schneider: "Bildung ermöglicht den Blick über den Tellerrand"
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23. April 2024, 08:37 Uhr
Über zehn Jahre begleitet die Filmemacherin Antje Schneider und ihr Team Jenny Rasches Hilfsprojekt von für Roma-Kinder in Sura Mare. Über 70 Stunden Filmmaterial hat sich über die Jahre angesammelt. Wir haben die Regisseurin nach ihrer Arbeit vor Ort, ihren Eindrücken und Einsichten befragt.
Wie bist du auf die Geschichte gestoßen, was hat dich daran besonders gereizt?
2009 arbeitete ich an einer Reportage über den Halberstädter Dom und fuhr zu Dreharbeiten in den Harz. Weil das Kamerateam schon vor Ort war, nahm ich den Zug. Im Abteil lag eine schon etwas ältere Regional-Zeitung. In ihr las ich einen Artikel über Jennys Arbeit in Rumänien. Ich war beeindruckt und beschloss, Kontakt zu Jennys Familie in Stapelburg im Harz aufzunehmen.
Ein paar Wochen später – es war kurz vor Weihnachten – telefonierte ich mit Jenny. Sie lebte damals schon in Rumänien und war auf Besuch zu Hause. Wir sprachen über eine Stunde. Danach wusste ich, dass dies ein Thema ist, das in die Öffentlichkeit gehört.
Jenny hatte durch Zufall in einem kleinen Dorf, in Sura Mare bei Sibiu, im rumänischen Siebenbürgen einen Roma-Slum entdeckt. Dort verhungerten Kinder! Es gab keinen Strom, kein Wasser, nur Blechhütten und Erdlöcher, in denen die Menschen hausten. Geschockt von diesen Umständen, gründete sie den Verein "Kinderhilfe für Siebenbürgen e.V." und warb zu Hause im Harz Spendengelder ein. 2007 zog sie mit ihrer Familie zu den Roma nach Rumänien. Vor Ort baute sie eine Suppenküche auf und eröffnete für die fast 40 Kinder des Slums ein Tageszentrum mit einer eigenen Schule für Analphabeten.
Dieses enorme und mutige Engagement musste "erzählt" werden.
In der Web-Doku-Serie gibt es einige Situationen, wo man im wahrsten Sinne den Atem anhält. Gab es während der Arbeit für dich eine rote Linie, die du nicht überschreiten wolltest? Gab es Momente, wo die Kamera aus blieb, weil das Entsetzen zu groß war?
Ja, die gab es. Die Geschichte von Kindern, die schwer sexuell missbraucht wurden, haben wir zu ihrem Schutz nicht veröffentlicht. Wir sahen mitunter auch Hütten, in denen Ratten über Kinder, die in ihren Exkrementen lagen, liefen. In diesen Situationen legte der Kameramann, oft weinend, sein Equipment nieder.
Es war und ist unglaublich und kaum auszuhalten, dass es solche Zustände mitten in Europa gibt.
Jenny Rasche ist eine beeindruckende Persönlichkeit, eine Mutter-Courage von Sura Mare, die scheinbar nie aufsteckt. Hast du auch eine andere Jenny kennengelernt? Eine zweifelnde, vielleicht auch manchmal eine verzweifelte?
Sehr, sehr selten. Jenny sagt immer: "Wozu soll ich über meine Grenzen nachdenken, wenn ihre (also die der Roma) längst erreicht und überschritten sind. Ein Chirurg legt ja auch nicht mitten in einer Herz-OP sein Skalpell nieder und meint, dass er eine Pause benötigt." Anfangs hatten wir Sorge, dass sie irgendwann aufgeben könnte. Diese Gedanken haben wir inzwischen nicht mehr. Weil: Jenny hat Kraft für mindestens drei – das sage ich zumindest immer.
Natürlich gab und gibt es Momente, an denen wir sie verzweifelt (aber nie zweifelnd, an dem was sie tut) erlebten. Vor allem dann, wenn Kinder starben.
Wir kennen Jenny seit über zehn Jahren. Privat, während der Drehpausen und am Telefon tauschen wir uns über große und kleine Probleme aus - als Menschen, als Eltern und inzwischen auch als Freunde. Dann kommt es vor, dass sie uns bzw. mich um Rat fragt.
Veränderung ist machbar - das scheint das Credo der Dokumentation zu sein. Worauf kam es dir bei dieser Geschichte besonders an? Was wolltest du unbedingt erzählen?
Dass es möglich ist, durch Hilfe zur Selbsthilfe in einem relativ kurzen Zeitraum große Veränderungen zu erreichen. Jenny begann ihre Arbeit in einem chaotischen Elend. Sie sorgte als erstes für menschliche Lebensbedingungen, um dann den Kindern Bildung und einen geregelten Alltag zu ermöglichen. Die junge Generation schaffte in den vergangenen Jahren so den Sprung in ein relativ normales Leben.
Über 90 Prozent der Kinder haben inzwischen einen Schul- und Berufsabschluss. Einige gehen sogar auf eine Universität. In der ehemaligen Armensiedlung gibt es keine provisorischen Hütten mehr. Die Roma haben sich feste Häuser gebaut. Es gibt Strom und Wasser und eine selbstgebaute Straße. Die Kinder, die heute Jugendliche oder junge Erwachsene sind, haben es angestoßen und organisiert. Die Alten eifern ihnen nach. Das heißt, in der Siedlung lernen heute die Alten von den Jungen. Dieses Phänomen ist so besonders, dass es erzählt werden muss!
Möglich wurde dies vor allem durch die Niederschwelligkeit des Projektes: Jenny und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten direkt und nah mit den Menschen. Finanziert wird ihre Arbeit durch Spendengelder und Patenschaften. Die bürokratische Arbeit für Jennys Verein "Kinderhilfe für Siebenbürgen" koordinieren ihre Schwester und die Eltern von Deutschland aus. Jeder Cent kommt bei den Bedürftigen an.
In Sura Mare scheint Bildung der Schlüssel zur Veränderung zu sein – auch um soziale Unterschiede abzubauen. Ist das eine universelle Erkenntnis, die auch auf Deutschland anwendbar wäre?
Ja! Bildung ist das wichtigste Mittel, um den Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft gerecht zu werden. Wenn wir solchen Themen wie Klimawandel, Globalisierung, Demografie, Digitalisierung – aber auch Ausgrenzung und Rassismus - angemessen begegnen wollen, ist Bildung unabdingbar. Es geht darum, die Dinge zu verstehen. Erst dann können wir darauf reagieren und sie positiv vorantreiben oder verändern. Bildung ist Teilhabe! Bildung ermöglicht den Blick über den Tellerrand.
Die Kehrseite der Medaille ist - und das sagt ja Jenny auch an mehreren Stellen - dass sie durch ihre Aktivitäten die eigene Familie mit in Haftung nimmt. Wie hast du die familiäre Situation erlebt? Ist der Preis zu hoch, den sie für ihr soziales Engagement bezahlt?
Natürlich ist das ein schwieriger Punkt. Jenny hat wenig Zeit für ihre Familie. Sie selbst sagt, dass ihre eigenen Kinder ihr es hoffentlich verzeihen, dass sie so wenig für sie da sein kann. Sei es bei Erfolgen oder in den Krisen ihrer Kinder. Philipp,ihr Mann, gleicht hier viel aus.
Jenny ist Mutter von sechs leiblichen und drei angenommenen Kindern. Die Großen sind inzwischen Teenager und kümmern sich um die Kleinen. Der Vorteil einer Großfamilie. Den Alltag in Jennys Familie erlebten wir immer ein wenig chaotisch, aber auch sehr fröhlich.
Besteht deiner Meinung nach die Gefahr, dass sich durch Jennys Engagement, staatliche Behörden zu sehr aus ihrer Verantwortung stehlen?
Anfangs hatte ich genau diesen Eindruck. Das Jugendamt behandelte die Fälle in der Roma-Siedlung mit Vorbehalten. Es gab große Ressentiments und Aussagen im Sinne, dass es für die Mitarbeitenden unzumutbar sei, in die Hütten der Roma zu gehen, weil es dort zu schmutzig sei und stinken würde. 2010 führten wir mit der Bürgermeisterin von Sibiu ein Interview zur Lage der Roma. Auch sie wiegelte ab und beteuerte, dass man sich nicht kümmere, da die ansässigen Roma eh bald weiterziehen würden.
Fünf Jahre später änderte sich die Situation. Jennys Arbeit und ihr Engagement sind den Behörden inzwischen bekannt. Das Jugendamt arbeitet mit ihr zusammen. Vor allem in der Notfallhilfe. Die Zuschüsse, die sie von staatlicher Seite bekommt, decken jedoch oft nicht einmal 20% der Kosten für einen Fall.
In der Reportage wird nur kurz erwähnt, dass es Spenden aus Deutschland und der Schweiz gibt. Wie groß ist mittlerweile das Spendenaufkommen und welche Organisationen unterstützen das Projekt?
Stiftungen wie "Der kleine Prinz" oder "Die Schlitzohren e.V." – über diesen Verein spenden viele prominente Künstler - unterstützen Jenny regelmäßig. Sie zahlen beispielsweise die Mieten für die Kinderhäuser, die Jenny betreibt, sie finanzieren zudem Gehälter oder Baumaterialien für die Roma.
Jennys Verein "Kinderhilfe für Siebenbürgen" ist inzwischen in über 30 Siedlungen und Orten tätig, versorgt über 280 Familien mit knapp 1.000 Kindern regelmäßig mit Lebensmitteln.160 Familien konnten von einer Hütte in ein kleines Haus umziehen. Für ca. 20 Familien werden die Wohnkosten in einer Mietwohnung übernommen. Dazu kommen immer wieder Nothilfen für mehrere hundert Familien im Umkreis von Sibiu.
In drei Kinderhäusern leben 30 Kinder. Über 50 Auszubildende und Studierende erhalten ein Kinderhilfe-Stipendium. Damit können sich die Familien leisten, ihre Kinder in eine unbezahlte Ausbildung, statt in einen nicht versicherten Tagelöhner-Job zu schicken.
Finanziert wird dies vor allem über Patenschaften. Derzeit spenden mehr als 1.000 Paten regelmäßig zwischen 20 und 100 Euro im Monat.
Desweiteren gibt es eine anonyme deutsche Spenderin, die Jennys Programm zur Geburtenplanung unterstützt. Sie finanziert jeden Monat und je nach Bedarf den gynäkologischen Einsatz von Spiralen.
Die Bilder des Films wirken lange nach. Was hat die Arbeit an der Dokumentation mit dir gemacht? Wie hat sie dich verändert?
Diese Arbeit lehrte uns und mich Demut. Oft sind wir – das Kamerateam - nach den Drehtagen schweigend nach Hause gefahren. Vor Erschütterung fehlten uns die Worte.
Im reichen, westlichen und auch schnellen Alltag bleibt wenig Zeit, um Innezuhalten, dankbar zu sein und nachzudenken. Konsum und Individualismus sind gängige Eigenschaften in unserer heutigen Gesellschaft.
Seitdem ich diese krasse Armut kenne, bin ich – so denke ich – reflektierter und genügsamer geworden. Banale (Luxus)-Probleme versuche ich, nicht mehr zu dramatisieren.
Sind die Arbeiten an der Dokumentation mit der Web-Serie für dich abgeschlossen? Wie geht die Geschichte von Jenny und den Roma-Kindern weiter?
Das Projekt Sura Mare, also die Begleitung der Entwicklung der Siedlung, in der Jenny seit 2007 arbeitet, ist inzwischen abgeschlossen. Im Winter 2020 starteten wir jedoch ein gemeinsames neues Projekt. In einem kleinen, sehr abgelegenen rumänischen Dorf, traf Jenny auf drei Jugendliche mit einer erschütternden Geschichte.
Roxana erwartet Zwillinge. Sie ist 15 und haust in einer Lehmhütte ohne Wasser, ohne Toilette und mit geklautem Strom. Iuan ist gerade 16 geworden. Er wohnt in der Hütte neben Roxana. Mit sieben Geschwistern. Die Mutter hat die Kinder verlassen. Ebenso der Vater, der Iuan zuvor fast totgeschlagen hatte. Er kann weder lesen noch schreiben.
Alexander kann das auch nicht. Obwohl der 15-jährige sieben Jahre zur Schule ging. Sein Vater ist ebenfalls gewalttätig.
Jenny entwickelte für die Jugendlichen ein Hilfsprogramm. Sie sollen lesen und schreiben lernen und nebenbei arbeiten, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Die Doku wird die Entwicklung von Roxana, Iuan und Alexandro über mehrere – mindestens fünf - Jahre begleiten. Die Kamera fungiert als rein beobachtendes Auge. Das heißt, die Bilder und die Protagonisten sprechen für sich. Ich, als Regisseurin, verzichte auf jegliche Wertungen.
Diese Dokumentation dreht Kameramann und Produzent Jan Siegmeier, den Ton und Schnitt übernimmt Tom Chapman. Wunderbare Kollegen. Ohne sie ginge gar nichts! Seit 2010 sind wir ein Dreh-Team, haben also die gesamte Jenny-Doku gemeinsam gestemmt.
Was sind deine nächsten Projekte?
Derzeit arbeite ich zudem an einer TV-Dokumentation über das Leben auf dem Friedhof.