Ethnische Minderheiten Sinti in der DDR: Gleichgestellt und unsichtbar
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02. August 2022, 18:37 Uhr
In der DDR lebten nach dem Krieg etwa 600 Sinti. Während sie im Westen auch nach dem Porajmos – dem nationalsozialistischen Völkermord – weiter diskriminiert wurden, sollten sie im sozialistischen Staat als Bürger gleichgestellt sein. Doch das entsprach nur teilweise der Realität. In der DDR wusste man nur wenig über diese Minderheit. Erst seit kurzem beginnen Sinti aus der DDR, öffentlich über ihre Geschichte zu sprechen.
Wer sind Sinti und Roma?
Sinti und Roma sind eine ethnische Minderheit, die seit einigen Hundert Jahren in Europa beheimatet ist und die gemeinsame Sprache Romanes spricht.
Als Sinti werden diejenigen Angehörigen der Minderheit bezeichnet, die sich in West- und Mitteleuropa und im heutigen Italien angesiedelt haben. Die Roma leben größtenteils in ost- und südeuropäischen Ländern. Außerhalb des deutschen Sprachraumes wird "Roma" als Name für die gesamte Minderheit verwendet.
Sinti und Roma besaßen nie einen eigenen Staat oder eine Regierung, die sich für sie einsetzten. Sie wurden früher als Zigeuner bezeichnet, was heute als diskriminierend gilt. Im Zweiten Weltkrieg wurden Sinti und Roma Opfer eines Völkermords, der unter dem Namen Porajmos in die Geschichte einging.
Als 1989 die Mauer fällt, ist Melanie Joschla Weiß - so ihr vollständiger Name - gerade bei den Thälmannpionieren. In ihrem Zeugnis heißt es, sie sei "immer hilfsbereit und solidarisch". Dass sie Sinteza ist, weiß sie. Was das eigentlich heißt, weiß sie nicht.
Ich wusste nur, wir sprechen eine andere Sprache zu Hause und ich habe eine andere Hautfarbe. Sonst haben wir dasselbe getan wie alle anderen auch. Wir haben die DDR-Nahrung gegessen. Wir haben Schwarz-Weiß-Fernsehen geschaut. Wir haben uns drei Stunden für Bananen angestellt. Also nichts, was irgendwie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet.
Heute will Melanie Joschla Weiß die eigene Familiengeschichte besser kennenlernen. Auch, um sich der Geschichte der Sinti in der DDR bewusst zu werden.
Es ist ein weißer Fleck, denn wie Sinti in der DDR lebten und wie sie vom Staat behandelt wurden, ist wenig bekannt. Und das Bild, das in der DDR von Sinti vermittelt wurde, war ein Romanhaftes.
Ede und Unku – Schullektüre in der DDR
Im Berlin von 1929 lernen sich auf einem Rummelplatz die Kinder Ede und Unku kennen. Es ist der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem Arbeiterjungen und einer Sinteza. Gegen viele Widerstände halten Ede und Unku zusammen. Die Familie von Unku versteckt gar den Vater von Edes bestem Freund, einen Kommunisten, der illegal einen Streik organisiert hat. Die kommunistische Autorin Grete Weiskopf hält die Geschichte dieser Freundschaft in einem Roman fest.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kennt in der DDR jedes Kind das Buch "Ede und Unku", es ist Pflichtlektüre in der Schule. Mit vielen Klassenkampfparolen passt es gut ins Selbstbild des sozialistischen Staates.
Veronika Weiß wird 1963 in Erfurt geboren. Auch sie liest Ede und Unku in der Schule. Einige Wörter sind in ihrer zweiten Muttersprache, dem Romanes, geschrieben.
Da wollte die Lehrerin wissen, was die bedeuten. Und das habe ich als Kind dann übersetzt. Und das war so interessant, das war so freudig für uns, dass es sowas überhaupt gibt.
In der DDR leben nach dem Krieg etwa 600 Sinti. In der Öffentlichkeit sind sie wenig präsent. Sie sollen, wie alle DDR-Bürger, ihren Dienst für den Staat leisten, im Betrieb, beim Militär. Sie sind gleichgestellt, aber auch unsichtbar.
Als ich 1979 die Lehre begonnen habe als Verkäuferin - damals hieß es 'Waren des täglichen Bedarfs' - die haben nur immer gesagt 'Du siehst so südländisch aus.' Und dann hab ich gesagt: 'Ich bin von dem Volk der Sinti und Roma.' Und da wurde nie drüber diskutiert. Sie haben sich nicht interessiert für unser Volk.
Der Völkermord an den Sinti und Roma – Unkus wahre Geschichte
Auch die Verfolgungsgeschichte von Unku ist in der DDR kein Thema. Erna Lauenburger, wie Unku mit bürgerlichem Namen heißt, wird mit ihren zwei Töchtern in Auschwitz ermordet. Von den etwa 20.000 deutschen Sinti und Roma überleben nur etwa 5.000 den Völkermord, viele von ihnen zwangssterilisiert. Die Schätzung der Gesamtzahl der ermordeten Sinti und Roma beläuft sich auf bis zu 500.000 Opfer.
Nach der Befreiung versuchen viele Sinti und Roma, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Die Familie von Manolito Steinbach lebt nach 1945 in West-Berlin. Sie wollen unsichtbar bleiben, nicht als Sinti auffallen. Schon als kleiner Junge lernt Manolito Steinbach die Geschichte seiner Verwandten Unku kennen.
Das war schon schrecklich, sowas zu hören, als Kind, als Jugendlicher. Das kann man gar nicht mit Worten beschreiben. Schrecklich. Aber man behält seine Verwandtschaft, seine Toten, in Erinnerung, weil das ja irgendwie ein Teil von dir selbst ist.
Bis heute hält Manolito Steinbach die Erinnerung an Unku wach. Sein Cousin hat sogar ein Buch über ihre Geschichte geschrieben. "Ede und Unku – Die wahre Geschichte" lautet der Titel.
Sinti in der DDR – als Verfolgtengruppe anerkannt
In der Bundesrepublik wird der Massenmord an den Sinti und Roma erst 1982 als Völkermord anerkannt. In der DDR gelten Sinti von Anfang an als Verfolgtengruppe. Die Erfahrungen der Überlebenden sind auch in der Familie von Veronika Weiß präsent. Ihr Großvater wurde in Mauthausen ermordet, seine Frau überlebte mit ihren Kindern versteckt im Wald. In der DDR wird Veronika Weiß‘ Großmutter als Verfolgte des Naziregimes anerkannt, bekommt finanzielle Unterstützung und empfindet gesellschaftliche Anerkennung. Dafür ist ihre Enkelin bis heute dankbar.
Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin ein DDR-Mädchen und ich werde es auch immer bleiben. Ich hatte keine Schwierigkeiten, es gab hier keine Rassendiskriminierung und wir sind auch vom Staat anerkannt worden.
Trotz der offiziellen Anerkennung von 117 Sinti als Verfolgte des Naziregimes (VdN) bis 1966, bleiben die Geschichten der Opfer ungehört. Im Vordergrund steht in der DDR die Erinnerung an antifaschistische Kämpfer. So wird auch nicht sichtbar, wie stark die Verfolgungserfahrung bis in die Nachkriegszeit wirkt. In der NS-Zeit wurden Sinti vom Bildungssystem ausgeschlossen, einige können weder lesen noch schreiben. Eine spezielle Förderung für sie gibt es nicht. Und auch in der DDR wird Sinti eine Entschädigung immer wieder versagt, weil die Nazis sie als "Asoziale" kategorisierten und dies von den DDR-Behörden nicht hinterfragt wird. Viele kämpfen vergeblich um Anerkennung ihrer Verfolgungserfahrung.
Diskriminierung auch im sozialistischen Deutschland
Die DDR soll ein antifaschistischer Staat sein, in dem es keine Diskriminierung gibt. Doch für Sinti werden trotzdem Sonderregeln erlassen, etwa in Entschädigungsfragen. So können Sinti nur dann einen Antrag stellen, wenn sie einen Arbeitsplatz nachweisen können. Diese Regel gilt für keine andere Bevölkerungsgruppe. Besonders schwerwiegend ist sie, da Sinti häufig den Gewerbeschein verweigert bekommen und so in die Arbeitslosigkeit getrieben werden.
In der Beschuldigtenkartei der Stasi werden Sinti rassistisch als "Zigeuner" kategorisiert und das gesellschaftliche Bild von ihnen ist oft von Klischees geprägt. Aber es gibt auch andere Beispiele: Bambino Weiß etwa, Veronika Weiß‘ Bruder, wird bei der NVA von einem Vorgesetzten beleidigt. In der Folge wird dieser degradiert und muss sich entschuldigen.
Dieser Oberfeldwebel wurde dann wegen 'eines schweren Vorkommnisses' zum Feldwebel degradiert. Das war mir zuwider. Ich hätte gesagt, er entschuldigt sich und gut ist es.
Der Mauerfall: für Sinti und Roma ein Schock
Veronika Weiß ist in der DDR auch beruflich erfolgreich, arbeitet sich bis zur Chefsekretärin bei Umformtechnik hoch. Im Westen bleibt ein beruflicher Aufstieg den meisten Sinti und Roma verwehrt – zumal, wenn sie sagen, dass sie zur Minderheit gehören. Bei Veronika Weiß wissen es die Kollegen, in der DDR fühlt sie sich sicher. Der Fall der Berliner Mauer ist ein Schock für sie.
Die Grenze ist weg! Das gibt es nicht! Dann musste ich erstmal zwei, drei Zigaretten rauchen. Das war für mich die Wende. Das war schlimm, irgendwie. So, jetzt ist alles weg. Und dann sind wir halt dann so rein gewachsen.
Neues Selbstbewusstsein
Ihre Tochter Melanie Joschla Weiß zieht im Erwachsenenalter nach Berlin und wird Theaterschauspielerin.
Meine Motivation für das Theaterspielen war es, gesehen zu werden. Mir ist es ein Anliegen, dass wir unsere Stimmen nach Außen bringen und unsere Geschichte weitererzählen. Es gibt hier ein starkes kulturelles Erbe, was es wiederzuentdecken gibt. Das betrifft auch die Perspektiven aus Ostdeutschland. Dieses Erbe zugänglich zu machen, macht auch die Welt ein Stück reicher.
Mit anderen Sintizze und Romnja gründet sie das Romnjapower-Theaterkollektiv. In ihrem aktuellen Stück, das am Berliner Grips-Theater entstanden ist, verarbeiten sie die Geschichte von Rita Prigmore und ihrer Zwillingsschwester Rolanda, die in den 1940er-Jahren Opfer medizinischer Experimente wurden. Gleichzeitig geht das Stück auch auf die Suche nach Perspektiven auf eine bessere Zukunft.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGENJOURNAL | 02. August 2022 | 19:00 Uhr