Wie Gabor Schneider im Rolli mobil macht Genickbruch und das Leben danach
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28. Februar 2024, 04:00 Uhr
Seit einem Badeunfall vor 13 Jahren ist Gabor Schneider aus Susenburg im Harz halsabwärts gelähmt. Aus dem jungen Punkrocker wurde Mr. Wheelchair. Nicht nur sein Leben hat sich komplett verändert. Tabea Hosche erkundet im Filmporträt für MDR Selbstbestimmt, wie er sich mit seiner Querschnittslähmung zurück ins Leben kämpfte, mit der Zunge am Smartphone und seinem Team OWOC. Eine Geschichte über Familie, Freundschaft und die Leidenschaft für Musik, die berührt und ermutigt, weil sie zeigt, wie selbstbestimmtes Leben mit Behinderung möglich ist.
Er ist Hardcore- und Punkrockfan, spielt selbst Gitarre und tritt mit seiner Band regelmäßig in Clubs im Osten der Republik auf. Er ist einer, der auffällt: Tätowiert von oben bis unten, geht er immer wieder an seine Grenzen. Stagediving ist obligatorisch bei jedem Auftritt. "Gabor war eine Rakete", da sind sich alle Bekannten einig. War?
Hardcore: Flachköpper auf die Sandbank
Er fühle sich immer noch wie ein Rockstar, lacht Gabor Schneider: "im Kopf und im Herzen". Denn so wie er die Nadel beim Tätowieren nicht mehr spürt, "nur ein bisschen Rumgepieke", kann er heute auch nicht mehr von der Bühne springen. Seit einem Badeunfall an der Ostsee ist er halsabwärts gelähmt.
Jedes Jahr zieht es ihn wieder zurück an den Ort, wo er sich am 6. August 2010 das Genick brach, als er unverhofft bei einem "Flachköpper" auf eine Sandbank traf: "Einmal im Jahr muss ich hierher, um das gut zu verarbeiten, danach geht's mir irgendwie ein bisschen besser damit." Freunde zogen ihn damals vorsichtig aus dem Wasser, eine Notoperation rettete ihm das Leben, das er nach Monaten der Reha wieder neu lernen musste: Atmen, Sprechen, Schlucken. Fast nichts darüber hinaus ging alleine. Das zu akzeptieren hat gedauert, sagt er. "Bei jemandem, der so eine Energie hat von 1.000 auf 0 – das ist schon heftig", sagt Jenny Keune, die ihn noch von früheren Konzerten kennt und heute im Pflegeteam an seiner Seite ist.
Stehtraining statt Stagediving: Nicht nur Gabors Leben hat sich verändert
Gabor Schneider hat sich ins Leben zurückgekämpft, auch weil ihn Freunde und vor allem die Familie auffingen, so wie früher beim Stagediving die Menge. Er ist verrentet, lebt immer noch in Susenburg im Harz, in einer eigenen Wohnung neben dem Haus seiner Mutter. Über das Persönliche Budget finanziert er vier festangestellte Pflegekräfte. Stehtraining gehört zu seinem Therapieplan immer dazu. Das sei wichtig, erklärt er, für die Knochen, "damit nicht alles so porös wird", da Rollstuhlfahrer durch das viele Sitzen zu wenig Belastung darauf hätten. Seine jüngere Schwester Sissy schnallt ihn dafür fest und bringt Gabor mitsamt dem Bett in die Senkrechte.
Nach dem Unfall war sie es, die sofort anpackte. Die gelernte Krankenschwester gab ihre Anstellung in einer Klinik auf, um Gabor zu pflegen, was für beide anfangs nicht einfach war. Ihre Wege kreuzten sich vor dem Unfall eher selten, Gabor arbeitete als Anlagenbediener bei VW, die Wochenenden gehörten seiner Band. Heute sagt er: "Ich finde, wir beide kommen sehr gut damit klar. Wir sind wie Zwillinge, die zusammengewachsen sind". Sissy, die inzwischen selbst eine Familie mit zwei Kindern hat, stellt fest: "Klar, mein Leben hat sich durch den Unfall verändert, aber entweder geht man den Weg gemeinsam, als Freunde oder Familie, oder jeder zieht sein eigenes Ding durch, bin ich aber nicht der Typ für." Und dass sie den Hut ziehe vor ihrem Bruder, betont sie: "wie er das alles schafft." Sie ging ebenfalls an ihre Belastungsgrenze, bis sie das Persönliche Budget und damit weitere Assistenzen für die Pflege zuhause erkämpft hatten.
"Da ist ein Riss. Der ist da drin und der bleibt da auch drin"
Auch das Leben der Eltern ist seit dem Unfall nicht mehr dasselbe. Als Feuerwehrmann ist Gabors Vater Dieter mit Notfallsituationen und Unglücken vertraut, das Schicksal seines eigenen Kindes verkraftet er schlecht: "Wir haben alles erreicht", sagt er rückblickend und meint, seine beiden Kinder hätten doch damals gerade begonnen, auf eigenen Beinen zu stehen, mit dem ersten eigenen Job, der ersten eigenen Wohnung, die Gabor erst drei Wochen vor dem Unfall eingerichtet habe: "Und dann war nichts mehr wie es war. Da ist ein Riss. Der ist da drin und der bleibt da auch drin", sagt er. Vor allem an sein Schweigen und das Gefühl des Alleingelassenseins erinnert sich seine Ex-Frau Liane. Gabor meint dazu, er habe nach dem Unfall psychologische Hilfe bekommen, alle anderen nicht: "Klingt hart, aber eigentlich hat die Familie ihren Vater verloren, nicht nur ich."
"Der heult ja auch nicht rum und lamentiert"
Genauso überfordert wie Gabor selbst und seine Familie, fühlten sich einige seiner alten Freunde, manche knüpften wieder Kontakt, zugleich wurden aus Bekannten enge Vertraute so wie Jenny Keune. Mit ihr und seinem Ex-Bandkollegen David Jagusch reist er im rollstuhlgerecht umgebauten Bus zu Festivals bis nach Bergen auf Rügen, beispielsweise um die Band COR zu erleben, auch wenn das Ausrasten heute anders aussieht: "Musik war und ist schon immer mein Leben. Die Musik und die Menschen in der Szene sind das, was mich am Leben hält."
Glaub nicht, was Du siehst, es kann dich täuschen, mein Freund. Der Körper ein Verlies, doch in Gedanken bin ich weit.
Um so mehr rührt es ihn, dass COR-Sänger Friedemann ein Lied für ihn geschrieben hat: "Weil du so ein Niedlicher bist", frotzelt der. Damit sich Gabor den Song zuhause bei Friedemann anhören kann, muss er ihm erstmal über die "selbstgeschnitzte Rampe" beim Reinkommen helfen: "Krass, wie aufwendig das ist, die 10, 12 Zentimeter zu überbrücken", stellt Friedemann fest und meint, dass Gabor querschnittsgelähmt sei, aber frei beweglich im Kopf, das bewundere er: "Ich bin halt auch ein Typ, der oft mit sich und seinen Lebensumständen hadert und da denke ich dann manchmal an Gabor und sag' mir: 'Ehrlich, der heult ja auch nicht rum und lamentiert.' Und das hilft mir, kräftiger und besser durchs Leben zu gehen."
Mr. Wheelchair und Team OWOC beim Spendenlauf
Am Leben will Gabor auch als Querschnittgelähmter voll teilhaben. Zusammen mit seinem Pflegeteam reist er zu Konzerten und Festivals, checkt dabei die Barrierefreiheit und gibt darüber in seinem Youtube-Kanal als Mr. Wheelchair Auskunft: "Es gibt viele Leute, die sich nicht auf Festivals trauen, weil sie Angst haben, an bestimmten Stellen nicht weiter zu kommen. Das will ich ändern und drehe Videos, die ich dann den Organisatorinnen zur Verfügung stelle, um ihnen zu zeigen, was noch besser werden kann."
Er hat gelernt, das Smartphone mit seiner Zunge zu bedienen, so steuert er nicht nur Licht oder Musikanlage im Haus, sondern kann in stetem Kontakt sein mit Freunden und Musikern in aller Welt. Er ist auch der Kopf von Team OWOC, was auf gut Denglisch steht für "One Wald – One Crew", wie Gabor lachend erklärt: "Weil ich im Wald wohne und Crew, weil wir halt 'ne geile Crew sind." Und dazu gehörten zuletzt mehr als 150 Leute, die mitmachten, als Gabor wieder zum internationalen Spendenlauf für die Rückenmarkforschung rief: "Vielleicht hat ja da draußen irgendwer Bock mitzumachen, einfach anmelden! Alle sind herzlich willkommen, außer Nazis!", trommelte er seine Leute zusammen. Die Kilometer würden per App gesammelt.
Immer wieder Kampf – und Party: "Ich lebe noch!"
Das Leben letztendlich zu bejahen, bedeutet für den inzwischen 38-Jährigen aber auch: seinen Schmerz, seinen Überdruss, seine Verzweiflung offen zu benennen. Und auch die Angst, beispielsweise in der Corona-Pandemie sein hart erkämpftes selbstbestimmtes Leben wieder zu verlieren. Leute aus seinem Pflegeteam steckten sich im letzten Winter mit dem Virus an, im Sommer erwischte es ihn selbst. Als Risikopatient mit geschwächter Lunge und Muskulatur lag er zwölf Tage lang isoliert in einer Spezialklinik für Menschen mit Rückenmarkverletzungen. Er hatte Angst zu ersticken. Sein Kampfgeist drohte ihn zu verlassen, gesteht er.
Denn er braucht den Kontakt zu seiner Community – und die braucht ihn. Er hat sich erneut zurückgekämpft – und auch die Party mit dem eigenen Hardcore-Festival im heimischen Garten nicht ausfallen lassen: "Da feiere ich jedes Jahr meinen zweiten Geburtstag nach dem Unfall mit allen Leuten, die mir wichtig sind. Denn schließlich habe ich damals Glück gehabt – ich lebe noch! Ich habe zwar einen Querschnitt, aber ich kann immer noch am Leben teilnehmen und kann sagen, was ich möchte, was ich denke und das ist ja sehr, sehr sehr viel wert."
Katrin Schlenstedt, MDR Religion und Gesellschaft
Wiederholung der Reportage vom Oktober 2022
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt – Die Reportage | 03. März 2024 | 08:00 Uhr