Zwei Männer mit Winterkleidung laufen an einem sonnigen Tag an jeweils einem Rollator auf einem breiten Gehweg. Lachen sich an. Baumstämme im Hintergrund.
Mann mit vollständiger (links) und unvollständiger (rechts) Rückenmarksverletzung laufen in Lausanne. Bildrechte: NeuroRestore/Jimmy Ravier

Elektrostimulation Querschnittslähmung: Drei Patienten können wieder laufen – dank Elektroimplantaten

07. Juni 2022, 16:26 Uhr

Die Idee, durch Elektrostimulation des Rückenmarks querschnittsgelähmte Menschen wieder zum Stehen und Laufen zu verhelfen, ist nicht ganz neu. In einer aktuellen Studie aus der Schweiz profitieren jetzt aber auch Patienten mit einer vollständigen Querschnittslähmung.

Von High-Tech-Anzügen ist die Rede. Und von Schienen mit elektronischen Kniegelenken. Die Liste an Hoffnung ist lang, wenn man eine Suchmaschine nach "Querschnittslähmung" und "wieder laufen" bemüht. Und die Forschung demnach emsig. Die Vision, querschnittsgelähmten Menschen einzelne Schritte oder sogar eine Fortbewegung mit den eigenen Beinen zu ermöglichen, hat jetzt ein neues Suchergebnis. Das heißt, eigentlich ist es ein alter Hut, vier Jahre alt, um genau zu sein.

Nach dem Prinzip, durch Elektrostimulation des Rückenmarks die Fähigkeit zu laufen wieder zurückzugewinnen, hatte ein Forschungsteam aus Lausanne in der Schweiz bereits 2018 eine erfolgreiche Studie vorgestellt. Schön, dass es dabei nicht geblieben ist und die Forschenden jetzt nachlegen können: mit einem neu entwickelten, für Patientinnen und Patienten personalisierten Elektrodenimplantat, das so an der Wirbelsäule platziert wird, dass die Elektroden über Nervenfasern Motor-Neuronen im Rückenmark stimulieren können. Muskeln im Rumpf und im Bein werden so aktiviert.

Erste Muskelbewegungen nach wenigen Stunden

Das Prinzip gelang in der jetzt in Nature Medicine veröffentlichten Studie bei drei Männern, die bereits wenige Stunden nach Beginn der Behandlung in den Beinen erste Muskelbewegungen hervorrufen konnten. Nach mehreren Monaten Training war es dann möglich, mit Gehhilfe mehrere Stunden zu stehen und zu gehen. Sogar Schwimmen und Radfahren wurde durch die Technik ermöglicht. Die Bewegungen müssen allerdings über ein Tablet angesteuert werden. Das Besondere: Alle drei Probanden waren komplett querschnittsgelähmt – ein Fortschritt gegenüber der Studie von 2018. Zudem können nun mehr Muskeln angesteuert werden als vorher.

Die Alltagstauglichkeit der Stimulation in der gezeigten Art und Weise ist nach wie vor äußerst limitiert.

Prof. Dr. Norbert Weidner Uniklinik Heidelberg

Bei Forschung, die mit großer Hoffnung einhergeht, stellt sich mit Veröffentlichung der Ergebnisse stets die Frage nach der Anwendbarkeit im Alltag. Oder eben einfach, wann es denn endlich soweit ist. Die Ergebnisse sind vielversprechend, aber auch hier gilt es zu bremsen, sagt Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie (Behandlung von Paraplegie/Querschnittslähmung) am Universitätsklinikum Heidelberg gegenüber dem Science Media Center: "Die Alltagstauglichkeit der Stimulation in der gezeigten Art und Weise ist nach wie vor äußerst limitiert – geringe Gehgeschwindigkeit, unphysiologisches Gangbild mit relativ hohem Energieaufwand." Zudem wies Weidner bereits bei einer ähnlichen Studie – ebenfalls aus dem Jahr 2018, wir haben hier berichtet – darauf hin, dass sich solche Therapieerfolge nur bei einem Teil Querschnittsgelähmter anwenden lassen. Es kommt also auf den Einzelfall an.

(Noch) Kein Ersatz für einen Rollstuhl

Das ist auch im aktuellen Forschungsfall nicht anders. Aus der Arbeit gehe zum Beispiel nicht hervor, wie viele Patientinnen oder Patienten gescreent werden mussten, um dann tatsächlich drei in die Studie einschließen zu können. Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth, gratuliert den Forschenden zu ihrer Arbeit – aber auch er weist auf die Einschränkungen des Ergebnisse hin. Wie Norbert Weidner betont er, dass der erreichte Gang kein Ersatz für einen Rollstuhl sei.

Zudem zerstreute er auch die Hoffnung, dass es bei dem Thema bald zu diesem einen Durchbruch kommen könnte: "Wir sind uns in vielen Fachgremien mittlerweile einig, dass es nicht die eine Pille oder die eine Methode zur Behandlung von Querschnittlähmungen geben wird", so Abel. "Dafür ist das gestörte System des Nervensystems viel zu komplex." Die Ergebnisse aus Lausanne sind daher als wertvoller Baustein zu verstehen: "Von daher sind die Ergebnisse sehr ermutigend und werden sicher ihren Platz in der Therapie finden."

flo

Link zur Studie

Die Studie Activity-dependent spinal cord neuromodulation rapidly restores trunk and leg motor functions after complete paralysis erschien am 7. Februar 2022 in Nature Medicine.

DOI: 10.1038/s41591-021-01663-5

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