MDR KULTUR | 21.06.2024 | Wochenabschnitt "Beha'alotecha" Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-Märtin: Der beschwerliche Weg in die Freiheit
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10. Mai 2024, 10:40 Uhr
Der Weg aus Unterdrückung und Unfreiheit in die Freiheit und vor allem in die Verantwortung für das eigene Leben ist nicht leicht. Darin erinnert Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in der Auslegung des Wochenabschnitts "Beha'alotecha".
"Beha'alotecha" - Unser Text diese Woche bringt uns nicht nur die Möglichkeit ein zweites Mal Pessach, das Fest der Freiheit, zu feiern, vor allem aber hören wir die Klagen der ehemaligen Sklaven und deren Kindern, die der guten alten Zeit nachtrauern, weil sie offenbar viel zu vieles vergessen haben.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet jetzt, Zweifel auftauchen, nicht nur beim Volk selbst, sondern auch bei denen, die das Volk bisher angeführt haben. Kurz vor dem Erreichen des gelobten Landes werfen Miriam und Aaron Moses Untreue vor.
Der Weg aus der Unterdrückung, aus der Unfreiheit, in die Freiheit und vor allem in die Verantwortung für das eigene Leben ist nicht leicht. Ein zweites Pessach soll uns daran erinnern, warum wir uns ursprünglich auf den Weg in die Freiheit gemacht haben.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wie selektiv unser Gedächtnis funktioniert, besonders dann, wenn wir mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden sind. Das Volk, das seit dem Exodus durch die Wüste wandert und mit dem Wasser aus Miriams Quelle und dem Manna G'ttes versorgt wird, ist unzufrieden und beschwört Bilder von Vollverpflegung mit Fisch und Früchten herauf.
Viele Kommentatoren sind der Ansicht, dass das Volk sich korrekt erinnert an die Früchte, den Fisch und das Gemüse, dass es für sie immer reichlich gegeben hat. Die andere Möglichkeit wäre, dass sie sich schlicht falsch erinnern oder auch sich selbst belügen.
Allerdings und das in jedem Fall, haben sie offensichtlich vergessen, zu welchem Preis es diese Verpflegung gegen hat: Harte Arbeit, Gefangenschaft und kein Familienleben. Das Volk hat vergessen dass die Verpflegung dazu diente ihre Arbeitskraft voll ausnutzen zu können, sie haben vergessen, welchen Preis sie dafür gezahlt haben.
Raschi, Rabbiner Jitzhak ben Schlomo, einer der berühmtesten Kommentatoren der Bibel, erklärt, dass das jüdische Volk sich nicht wegen des Essens beklagte, sondern es ging um eine andere Freiheit, nämlich um die Freiheit von Verantwortung, die Freiheit von religiösen Pflichten, den Geboten G'ttes: den Mitzwot.
In Ägypten gab es keine moralischen Beschränkungen: so konnten sie essen, was sie wollten, sie konnten heiraten, wen sie wollten und sie konnten 7 Tage der Woche arbeiten. Die Rabbiner beschreiben die wahren Gefühle des jüdischen Volkes mit "Chinam min Mitzwot", frei von Mitzwot, frei von religiösen Pflichten.
Jetzt jedoch, sozusagen von heute auf morgen waren sie an Gesetze gebunden, die jeden Aspekt ihres Lebens beinhalteten. Es ist geradezu der Clou dieser Paraschah, dass wir hier über ein zweites Pessachfest lesen. Gerade wenn wir vergessen haben, warum wir aufgebrochen sind, werden wir daran erinnert, dass wir Sklaven waren, dass unser Leben jederzeit in der Hand von anderen war, selbst das unserer Babys, und wir werden daran erinnert durch wen (Moses, Miriam und Aaron mit der Hilfe G'ttes) und wodurch (nach den Zehn Plagen) wir uns auf den Weg in ein selbstbestimmtes Leben machen konnten.
Mich erinnert diese Paraschah an 1989, die politische Wende und deren Folgen für die DDR, ebenso wie an die Tatsache, dass schnell vergessen wurde - auf beiden Seiten der ehemaligen Mauer - warum die Menschen 1989 auf die Straße gegangen sind: Sie waren auf der Straße für Freiheit und für ein selbstbestimmtes Leben!
Der Weg in die Freiheit ist indes immer beschwerlich, eben weil Freiheit mit Gesetzen verbunden ist, mit Gesetzen, die uns alle einbinden in eine soziale Gemeinschaft und weil die eigene Freiheit immer dort aufhört, wo die Freiheit eines anderen beginnt.
Jedes Pessach soll jede Person so feiern, als wäre sie selbst beim Exodus dabei gewesen, es ist also mehr als einfach nur die Erzählung einer Geschichte, es ist das Hineinversetzen und das Selbst ERLEBEN - es ist - wie Pirke Avot 2:21, die Sprüche der Väter, sagen: "Es ist nicht an dir, das Werk zu vollenden, es ist aber auch nicht an dir, dich ihm zu verweigern". Wir sind alle Teile des Werkes, das Freiheit heißt.
In diesem Sinne erinnern Sie sich daran, warum Ihre Großeltern, Eltern und Sie selbst in die Freiheit gezogen sind. Halten Sie an der Freiheit fest, jeden Tag und für uns alle!
Schabbat Schalom!
Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin
Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.
2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.
Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 21. Juni 2024 | 15:45 Uhr