Rabbinerin Esther Jonas-Märtin 5 min
Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Bildrechte: MDR/ Michaela Weber

MDR KULTUR | 10.05.2024 | Wochenabschnitt "Kedoschim" Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-Märtin: "Du sollst kein Hindernis errichten vor einem Blinden"

10. Mai 2024, 10:40 Uhr

Es braucht nicht viel, um glücklich zu sein, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Kedoschim". Ein Spaziergang im frühlingsgrünen Park bei Sonnenschein – dafür sei der Schabbat genau der richtige Tag. Zugleich denkt sie darüber nach, was uns daran hindert, beispielsweise unseren Konsum zu überdenken und was Ehrlichkeit und Fairness damit zu tun haben.

Frei nach dem Motto "nomen est omen" ist der Name unserer Paraschah "Kedoschim", hebräisch: "Heiligung", quasi Programm. G'tt sagt Moses, dass er dem Volk eine Reihe von ethischen und rituellen Gesetzen geben soll. Mit diesen Gesetzen soll das Volk lernen, wie wir heilig sein können. Unsere Lesung betont jene Gesetze, die Ehrlichkeit und Fairness beinhalten. Einer der wichtigsten Sätze ist: "Du sollst kein Hindernis errichten vor einem Blinden; und du sollst G'tt fürchten – Ich bin G'tt." (Lev. 19:14)

Von Ehrlichkeit und Fairness

Auf den ersten Blick erscheint dieses Gesetz selbsterklärend, würde doch kaum jemand von uns auf die Idee kommen, absichtlich ein Hindernis vor einer blinden Person oder einem Menschen im Rollstuhl aufzustellen. Auf den zweiten Blick jedoch richtet sich das Augenmerk auf den zweiten Teil des Satzes: "Und du sollst G'tt fürchten – Ich bin G'tt". Es scheint, dass mehr an diesem Satz dran ist, als wir zunächst denken.

Raschi, ein bekannter Rabbiner und Kommentator der Bibel, der meist dem wörtlichen Sinn der Bibel folgt, erklärt, dass damit jedes Hindernis gemeint ist, das einer anderen Person Schaden zufügen könnte. Rabbiner Samson Raphael Hirsch führt diesen Punkt noch weiter aus. Er schreibt, dass damit jeder Mensch angesprochen ist, der absichtlich direkt oder indirekt einen falschen Rat erteilt; jeder Mensch, der falsche Informationen gibt oder sonst aktiv oder passiv Dinge tut, die letztlich anderen Menschen Schaden zufügen. Das Verbot, vor anderen ein Hindernis aufzustellen, bezieht sich auf alle diese Verhaltensweisen. Demzufolge ist also die ganze Sphäre des materiellen und seelischen Wohles unserer Nachbarn unserer Fürsorge anvertraut.

Das Verbot, vor anderen ein Hindernis aufzustellen, bezieht sich auf alle diese Verhaltensweisen.

Falsch könnte zum Beispiel sein, jemandem zu raten, etwas zu verkaufen, obwohl es nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist. Ein weiterer Aspekt dieses Gebotes bezieht sich auf Handlungen, die Menschen daran hindern, ein Gebot wie zum Beispiel das des Respektes vor den Eltern einzuhalten: Wenn Eltern nämlich ihre Kinder schlagen oder ihnen anderweitig psychischen Schaden zufügen, dann sind sie – und nicht das Kind- verantwortlich dafür, dass das Gebot "Ehre Vater und Mutter" nicht erfüllt werden kann.

Eine falsche Information könnte darin bestehen, zu behaupten, ein Kind sei das Kind dieser Eltern, obwohl dies nicht der Fall ist. Fake News oder fake facts sind also nichts Neues. Aber die Bandbreite der Möglichkeiten ist gerade in unserer medialen und vernetzten Welt sehr viel größer.

Eine Lesart des falschen Informierens könnte auch sein, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, inwieweit Werbung dazu führt, dass wir falsche Entscheidungen treffen. Weil Werbung uns glauben macht, dass wir, wenn wir nur "X" oder "Y" besitzen, dann glücklicher, schöner oder auch erfolgreicher sind. Weil Werbung uns glauben macht, dass wir ohne eigenes Haus, Auto oder Kredite nicht dazu gehören, wobei das Haus uns permanent überfordern kann, das Auto ungeahnte Folgekosten mit sich bringt und Kredite uns in die Schuldenfalle stürzen können.

Eine Lesart des falschen Informierens könnte auch sein, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, inwieweit Werbung dazu führt, dass wir falsche Entscheidungen treffen.

Konsum prägt mittlerweile unser aller Alltag. Mit teils fatalen Folgen für unsere Umwelt und für uns selbst. Wenn wir nämlich das gerade gekaufte T-Shirt kaum tragen und wegwerfen, weil es bereits unmodern ist. Wenn wir zu viele Lebensmittel kaufen, weil sie in Großpackungen viel billiger sind. Oder auch "nur" wenn wir glauben, dass Konsumieren uns glücklich machen würde.

Das subtile Hindernis des Konsums, das uns alle betrifft, hat bereits tödliche Folgen. Tiere verenden, weil sie Plastik für Nahrung gehalten haben. Das arktische Eis, das unsere globale Temperatur in der Balance hielt, ist inzwischen massiv abgeschmolzen. Unsere Meere sind durch Chemikalien, Plastik und Mikroplastik verseucht, die besonders in den Kleinstbestandteilen über die Nahrungskette auch in unseren Körpern angekommen ist.

Die Paraschah "Kedoschim" lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Ehrlichkeit und Fairness als die Werte, die unser Handeln heilig machen. Ehrlichkeit und Fairness sind nachhaltige Grundlagen für unser achtungsvolles Miteinander als Menschen, egal wo auf der Welt wir leben: Wann haben Sie zum letzten Mal ihre Lieblingsschuhe zur Reparatur gebracht und nicht durch ein neues Paar ersetzt? Wie stehen Sie zu einem gebrauchten Computer oder Handy? Was halten Sie von tauschen statt neu kaufen? Würden Sie ein bestimmtes Produkt immer noch kaufen, wenn Sie wüssten, unter welchen Umständen produziert wurde?

Als Konsumenten sind wir alle wie Blinde, während Werbung und die Konsumgesellschaft, immer weiter Hindernisse aufstellen und uns weiter konditionieren. Wir müssen lernen, weniger zu produzieren, weniger zu verkaufen und zu kaufen und weniger unnötige Dinge zu konsumieren.

Schabbat ist ein Tag ohne Konsum, ein Tag, der uns daran erinnert, wie wenig nötig ist, um glücklich zu sein: ein Spaziergang im Park, Sonnenschein und das Glitzern des Wassers im See oder das Frühlingsgrün der Bäume.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 10. Mai 2024 | 15:45 Uhr