MDR KULTUR | 08.03.2024 Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-Märtin: "Seien Sie Mensch!"
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07. März 2024, 12:40 Uhr
Jeder Mensch ist einzigartig, und jeder hat seine besondere Aufgabe – selbst wenn er manchmal das Gefühl hat, im Schatten eines anderen zu stehen. Daran erinnert die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts "Wajekhel".
Wajakhel, unsere Tora-Lesung dieser Woche, bedeutet: "Und er versammelte" und bezieht sich auf Moses, der das Volk um sich versammelt, um nach der Episode mit dem Goldenen Kalb nun einen Neuanfang zu wagen. Dieser Neuanfang besteht im Bau des Festzeltes und in der Ernennung des Chefarchitekten.
Am Anfang der Lesung steht aber nicht, wer der Chefarchitekt des Festzeltes, des Ohel Moed, ist, sondern es sind zuerst all die Menschen im Zentrum, deren Herz und Sinn sie dazu bringt, das Ohel Moed, das Festzelt, mit Spenden zu ermöglichen. Die Menschen haben dazu gelernt und korrigieren ihren Fehler mit dem Goldenen Kalb. Tatsächlich spenden sie so viel, dass Moses sie stoppen muss.
Bezalel, der Chefarchitekt, und seine rechte Hand Oholiaw betreten erst ab dem 30. Vers die Bühne. Diese Reihenfolge ist ebenso bedeutsam, wie die Tatsache, dass Bezalel zum großen Stamm Judah und Oholiaw zum kleineren Stamm Dan gehört. Damit repräsentieren die Bandbreite des Volkes - so wie auch der Auftrag zum Festzelt beizusteuern, kollektiv an alle gerichtet ist.
Aber wenn das Ohel Mo’ed, das Festzelt, nur aus dem mitgebrachten Material der Menschen erstellt würde, gäbe das ein totales Chaos. Wer schon einmal bei einer Spendenaktion dabei war, wird das bestätigen. Es braucht jemanden, der fähig ist, die gesamte positive Energie zu bündeln, die verschiedenen Materialen koordiniert einzusetzen und alles sinnhaft zu organisieren.
"Im Schatten G’ttes"
Der Name Bezalel, Bezal El, bedeutet: "Im Schatten G’ttes". Während wir dazu neigen, es als negativ zu verstehen, wenn jemand im Schatten von jemandem oder etwas anderem steht, so ist das hier ganz anders zu verstehen. Bezalel steht unter besonderem Schutz in einem sehr besonderen Auftrag. Der Name seines Partners Oholiaw, Ohel Aw, bedeutet: "Zelt des Vaters", nicht von ungefähr ist er für alle Stoffe verantwortlich. Nicht zufällig ist er mit-verantwortlich für das Ohel Moed.
Seien Sie sich Ihrer Einzigartigkeit bewusst, gerade wenn Sie im Schatten eines anderen stehen! Und das Wichtigste: Seien Sie Mensch!
Erinnern Sie sich daran, dass die Menschen gerade ein Goldenes Kalb angebetet haben und dabei ihren Besitz und ihre Energien für zerstörerische Zwecke eingesetzt haben. Während Moses' harte Reaktion der Situation angemessen ist, wirkt Bezalel im wahrsten Sinne des Wortes "konstruktiv".
Bezalel bildet den Mittelweg zwischen Moses' Ablehnung des Götzendienstes und der Kapitulation Aarons. Bezalel lehnt sowohl die Reaktion Moses' als auch die Unfähigkeit Aarons ab. Er behält eine Vision bei, arbeitet aber auch mit den Materialien, die ihm zur Verfügung gestellt werden – eine Meisterleistung. Genau genommen ist Bezalel kein Architekt von Dingen, sondern vielmehr ein Architekt von Seelen.
Ein Gebäude, das auf der Grundlage von Zwang oder Hintergedanken errichtet wurde, würde den Menschen keinen Platz in der Welt verschaffen. Es wäre ein Turmbau zu Babel. Ich glaube, dass sich Bezalels Einzigartigkeit in seiner Großzügigkeit und Lehrbereitschaft widerspiegelte, denn er wusste, dass die Weitergabe seines Wissens und seiner Weisheit ihn nicht überflüssig, sondern relevanter machen würde. Wobei die Fähigkeit, großzügig zu sein, oft ein besonderes Gefühl von Sicherheit erfordert. Eine Sicherheit, die man nur erlangen kann, wenn man sich außer Konkurrenz fühlt, wenn man wie Bezalel im Schatten G’ttes steht.
Worte und Visionen nicht Gebäude überdauern
Die Grundrisse des Festzeltes sind nicht das Wesentliche. Hat Bezalel Fähigkeiten vermittelt? Ja. Die Fähigkeit, einzigartig zu sein, die Fähigkeit, Menschlichkeit und Kreativität mit einer Vision zu verbinden, die in keinem Buch geschrieben steht. Lehrende vermitteln die Liebe zum Lernen. Die Liebe zum Lernen ermöglicht es, bei den Schülern neue Möglichkeiten zu entdecken und ihre eigenen Bestrebungen zu wecken, selbst zu Lehrenden zu werden. Wie tiefgreifend ist der Gedanke, dass es sich bei dem Bau um ein getarntes Bildungsprojekt handelte. Natürlich würden unsere Lehrenden, die Rabbiner*innen, das sagen, und doch sind es immer wieder ihre Worte, die wir weiterhin studieren, auch wenn die Gebäude schon lange verschwunden sind.
Die Gebäude können verschwinden, aber künstlerische Fähigkeiten, Menschlichkeit und Visionen sind es, die uns tragen und in die Zukunft leiten können.
Mögen Sie sich getragen fühlen! Seien Sie sich Ihrer Einzigartigkeit bewusst, gerade wenn Sie im Schatten eines anderen stehen! Und das Wichtigste: Seien Sie Mensch!
Schabbat Schalom!
Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin
Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.
2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.
Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 08. März 2024 | 15:45 Uhr