MDR Kultur | 10.01.2025 | Wochenabschnitt "Wajechi Schabbat Schalom mit Rabbiner Elischa Portnoy: Von der Kunst zu trösten
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10. Januar 2025, 13:25 Uhr
Wenn Menschen Trost brauchen, helfen rationale Argumente oft nicht weiter. Echte Empathie dagegen trägt dazu bei, sie zu beruhigen und ihren inneren Schmerz zu lindern, empfiehlt der Hallenser Rabbiner Elischa Portnoy in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Wajechi".
Der Wochenabschnitt "Wajechi" (und [Jakow] lebte) beendet das erste Buch Mose. Der ganze Wochenabschnitt behandelt das Lebensende des letzten der biblischen Patriarchen - Jakow.
Nach vielen Herausforderungen und schweren Prüfungen erlebt unser Vorvater Jakow ein ruhiges und würdiges Lebensende in Ägypten in der Obhut seines Lieblingssohnes Josef.
Und als das Ableben von Jakow unmittelbar bevorsteht, bringt sein Sohn Josef seine eigenen Söhne Menasche und Efraim zum Vater, um von ihm den Segen für sie zu bekommen. Und tatsächlich erteilt Jakow den Söhnen von Josef einen wunderbaren Segen.
Doch wenn man den Text aufmerksam liest, fällt eine Passage auf. Inmitten der Erzählung über den Segen für Josefs Söhne kommt plötzlich ein Vers, der mit dem Segnen eigentlich nichts zu tun hat.
Als Menasche und Efraim noch vor ihrem betagten Großvater stehen, erzählt Jakow plötzlich vom Tod und der Beerdigung seiner geliebten Frau Rachel, die auch die Mutter von Josef war: "Mir aber, als ich kam von Padan, starb Rachel im Land Kenaan, auf dem Weg, da noch ein Stück Landes war bis nach Efrat hin; und ich begrub sie dort auf dem Weg nach Efrat, das ist Bet-Lechem".
Viele Kommentatoren wundern sich über diesen Vers an dieser Stelle. Hat Jakow seinem Sohn etwas Neues erzählt? Josef kannte diese Tatsache bestimmt schon. Außerdem, warum erzählt Jakow das ausgerechnet an dieser Stelle?
Der großer Kommentator Raschi beantwortet diese Fragen folgenermaßen: "Obschon ich dich bemühe, mich dahinzubringen, um im Lande Kenaan begraben zu werden, habe ich deiner Mutter nicht so getan; auch wenn sie starb in der Nähe von Bet Lechem".
Also sieht es so aus, dass Jakow ein schlechtes Gewissen hat und versucht, seinem Sohn die Gründe für die Beerdigung seiner Mutter "unterwegs" zu erklären.
Der siebte Ljubawitscher Rebbe Rabbi Menachem Mendel Schneerson stellt hier noch eine sehr gute Frage: wenn Jakow vermutete, dass Josef seine Entscheidung in Frage stellte, warum wartete er bis zu diesem Moment, um dieses Thema zu klären? Und wenn Jakow sich sicher war, dass Josef seine Entscheidung voll und ganz akzeptierte, warum sollte er das jetzt überhaupt noch ansprechen?!
Der Rebbe beantwortet diese Frage so: natürlich hat Josef nie gezweifelt, dass sein Vater alles richtig gemacht hat. Egal, welche Gründe es gab, es gab sicherlich gute Gründe, Rachel außerhalb einer Ortschaft zu beerdigen.
Wäre es anders gewesen, hätte Jakow Rachel sicherlich in Bet-Lechem beerdigt. Das alles verstand Josef auf intellektuellem Niveau, in seinem Kopf. In seinem Herzen jedoch, rein emotional, hatte Josef doch ein kleines, wahrscheinlich sogar unbewusstes Unbehagen.
Das merkte sein großer Vater und wollte sein Trauma unbedingt auflösen. Laut unseren Weisen hat Jakow seinem Sohn folgendes gesagt: "Wisse, auf G‘ttlichen Befehl habe ich sie dort begraben, damit sie einst ihren Nachkommen beistehe; wenn Nebusaradan sie in die Verbannung führen wird und sie dort vorüberziehen, dann wird Rachel ihr Grab verlassen und weinend für sie um Erbarmen flehen".
Jakow hat also keine rationalen und logischen Gründe für seine Entscheidung vorgebracht. Ihm war klar, dass Josef keinen Zweifel daran hat, dass die Beerdigung so nötig war.
Jakov beruhigt Josef emotional: "Wisse, dass deine verstorbene Mutter noch eine wichtige Rolle spielen wird! Wenn nach der Zerstörung des Tempels Juden ins Exil geführt werden, werden sie an der Grabstätte von Rachel vorbeiziehen, und Rachel wird für sie im Himmel beten".
Dieses Argument war genau das, was nötig war, um Josef zu beruhigen und seinen inneren Schmerz zu lindern!
Und das ist auch ein großes Prinzip in der Seelsorge: manchmal gibt es wirklich nachvollziehbare Gründe, warum jemand etwas widerfahren ist. Jedoch hilft die Tatsache, dass es so kommen musste, oft nicht, um die Betroffenen zu beruhigen.
Man muss dann solche Argumente finden, die die Menschen emotional entlasten. Keine Künstliche Intelligenz wird das wohl je schaffen, nur die Menschen, die echte Empathie und Menschenliebe besitzen, werden immer imstande sein zu trösten und zu stärken.
Schabbat Schalom!
Zur Person: Rabbiner Elischa M. Portnoy
Rabbiner Elischa M. Portnoy wurde 1977 in Nikolaew in der Ukraine geboren. Seit 1997 lebt er in Deutschland. 2007 erwarb er sein Diplom als Ingenieur für Elektrotechnik an der TU Berlin. 2012 schloss er seine Ausbildung am Rabbinerseminar in Berlin ab und erhielt die Smicha.
Elischa M. Portnoy arbeitet als Militärrabbiner der Bundeswehr am Standort Leipzig und betreut die Jüdische Gemeinde in Halle / Saale. Er ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD). Er ist verheiratet mit Rebbetzin Katia Novominski und Vater von vier Söhnen.
Schabbat Schalom bei MDR KULTUR
Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.
Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.
"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 10. Januar 2025 | 15:45 Uhr