Schabbat Schalom | MDR Kultur | 03.01.2025 Wochenabschnitt "Wajigasch": Wie man eine schwierige Unterhaltung beginnen sollte

02. August 2024, 11:00 Uhr

Schwierige Gespräche beginnt man am besten mit einer einfachen Frage. Dann gelangt man am Ende des Gesprächs auch leichter zu einer einfachen Lösung, meint Rabbiner Alexander Nachama in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Wajigasch".

Zu Beginn des Wochenabschnitts "Wajigasch" lesen wir, wie Joseph, der bis dahin als Vizekanzler des Pharaos aufgetreten war, seinen Brüdern seine wahre Identität offenbart.

Das passiert, nachdem er den Zusammenhalt seiner Brüder durch den silbernen Becher, den er seinem Bruder Benjamin heimlich ins Gepäck gelegt hatte, auf die Probe gestellt hat. In dieser Situation bietet sich Judah, ein anderer Bruder, selbst als Sklave an, um Benjamin und ihren Vater Jakob zu retten. Warum auch Jakob? Weil dieser, so die Vermutung der Brüder, keinen weiteren Schicksalsschlag überleben würde, war doch Benjamin seit Josephs vermeintlichem Tod sein neuer Lieblingssohn.

Die solidarische Reaktion seiner Brüder rührt Joseph, und so schickt er alle Diener aus dem Zimmer, um sich mit seinen Brüdern zu unterhalten. Jetzt könnte man einen langen Monolog erwarten, mit berechtigten Vorwürfen, aber schließlich auch versöhnlich, an dessen Ende dann die Worte stehen: "Und also bin ich es, Joseph, euer verlorener Bruder!"

Jedoch heißt es in der Tora lediglich: "Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Joseph! Mein Vater, lebt er noch?" Die Reaktion der Brüder ist verständlich: "Die Brüder konnten ihm nicht antworten, denn sie waren vor ihm erschrocken." Sie hatten überhaupt nicht damit gerechnet, dass der Bruder, den sie einst als Sklaven nach Ägypten verkauft hatten, gerade zu ihnen spricht.

Warum wählt Joseph eine so direkte Art, sich seinen Brüdern zu offenbaren? Betrachten wir es aus einer anderen Perspektive. Als sich Adam und Eva im Garten Eden von der Schlange verführen lassen, wird ihre Sünde schnell von Gott aufgedeckt. Sie verstecken sich zwischen den Bäumen des Gartens, Gott ruft Adam und spricht: "Wo bist du?"

Den rabbinischen Kommentaren können wir entnehmen, dass Gott gewusst haben wird, wo sich Adam und Eva befinden, aber die Unterhaltung mit einer einfachen Frage beginnen wollte.

Ebenso lesen wir in der Geschichte von Kain und Abel, kurz nachdem Kain den Abel erschlagen hat, folgende Worte von Gott: Er fragt Kain: "Wo ist dein Bruder Abel?" Auch hier wird wieder davon ausgegangen, dass Gott schon gewusst haben wird, was mit Abel passiert ist.

Warum also diese scheinbar überflüssigen Fragen von Gott? Weil so schwere Unterhaltungen am besten einfach begonnen werden. Es sind einfache Fragen, die eigentlich nicht beantwortet werden müssen, die aber dazu führen sollen, dass nicht gleich zu den schweren Inhalten übergegangen wird.

Betrachten wir noch einmal die Unterhaltung von Joseph und seinen Brüdern, so stellen wir fest, dass auch Joseph eine ähnliche Strategie verfolgt. Denn seine erste Frage: "Mein Vater, lebt er noch?" beantwortet sich eigentlich von selbst. Selbstverständlich lebt der Vater noch, hatten die Brüder doch zuvor von ihm erzählt

Die Brüder sind aber so geschockt, dass Joseph vor ihnen steht, dass dieser noch etwas weitersprechen muss, bis die Brüder schließlich antworten können. Joseph deutet seinen Verkauf als göttliches Schicksal, das es ihm ermöglicht, seine Familie vor der Hungersnot zu bewahren.

Selbst wenn Joseph hier mit seiner Strategie nicht so erfolgreich ist, so können wir doch festhalten, dass es besser sein mag, schwere Unterhaltungen einfach zu beginnen. Das lindert nicht zuletzt auch die eigene Aufregung. Vielleicht mag es auch dazu beitragen, dass eine schwere Unterhaltung ebenso einfach endet, wie sie begonnen hat.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Alexander Nachama Geboren 1983 in Frankfurt am Main. 2005 erhielt er von Rabbiner Zalman Schachter-Shalomi, dem Gründer der Rabbiner- und Kantorenschule "Aleph", eine Urkunde als Kantor. 2008 erhielt er einen Bachelor in Judaistik (Freie Universität Berlin), 2013 einen Master (Universität Potsdam).

Ab 2007 absolvierte er eine Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg mit Studienaufenthalten in Israel, die er 2013 mit der Ordination zum Rabbiner abschloss. 1998 - 2011 amtierte Alexander Nachama zunächst als ehrenamtlicher Vorbeter, später als Kantor in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

In den Jahren 2012 - 2018 war er Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dresden, bis August 2023 Landesrabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Inzwischen ist Alexander Nachama der zuständige Militärrabbiner für Berlin und Brandenburg.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 03. Januar 2025 | 15:45 Uhr