Sachbuch "Nicht gesellschaftsfähig": Alltag mit psychischen Belastungen Depression: Wie Comic-Künstler Schwarwel die Dämonen umarmt
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10. Januar 2024, 12:58 Uhr
"Um so schwerer das Thema, um so leichter musst du das erzählen", sagt der Leipziger Comic-Künstler Schwarwel über seine Idee, Depression, Ängste und Zwänge aus der Tabuzone zu holen. Neben Erfahrungs- und Expertenberichten machen Gedichte, Cartoons und Comicstrips von Schwarwel das 600-Seiten-Werk zum "Blätterbuch", das vor allem eins will: zum offenen Gespräch über den Alltag mit psychischen Belastungen anregen. Auskunft geben auch Prominente wie Comedian Torsten Sträter, Danger Dan oder Krimi-Autorin Zoë Beck.
"Nicht gesellschaftsfähig" – so heißt das Buch, das eigentlich um die 300 Seiten haben sollte, dann aber doppelt so dick wurde. Nicht nur Experten, sondern vor allem Betroffene und deren Angehörige schildern ihren Alltag mit psychischen Belastungen. Und das mit großer Offenheit, ernst, aber auch mit Humor. Auskunftsbereit sind Prominente wie zum Beispiel Comedian Torsten Sträter, Danger Dan oder Moderator Markus Kavka, die davon erzählen, wie es ist mit Depressionen, Ängsten oder Zwängen zu leben.
Von der Idee zum Buch-Projekt: "Nicht gesellschaftsfähig"
Auf den Weg gebracht haben dieses auch durch Crowdfunding finanzierte Buch-Projekt der Leipziger Comic-Künstler Schwarwel und Produzentin Sandra Strauß mit ihrem Studio "Glücklicher Montag".
Die Idee lag für Schwarwel nah. Zum Projekt sei sie nach dem "Endlichkeitsfestival" im September 2019 geworden, erzählt er. Das gemeinsam mit FUNE-Stiftung veranstaltete Festival sollte Laien und Experten zusammenbringen, um über die ebenfalls gern verdrängten Themen Trauer und Tod ins Gespräch zu kommen. Schwarwel nahm mit seiner Graphic Novel "Gevatter" an diesem Diskurs teil, der letzlich nicht nur auf die Endlichkeit, sondern auch darauf zielte, "ein Gespür für den Wert des Lebens" zu bekommen. "Für mich war es ein logischer Schritt zu sagen: 'Hey, eigentlich wäre das ein Thema für ein Buch, wo man noch mehr Protagonisten einbinden kann", erklärt Schwarwel und Sandra Strauß erinnert sich, wie schnell der Plan gefasst war: "Eins unserer typischen Meetings: 'Wollen wir es machen? Ja!'"
Klar war für sie, dass Betroffene selbst und ohne starre Vorgaben zu Wort kommen sollten: "Wie fühlt sich der Alltag mit einer Persönlichkeitsstörung an, mit Schizophrenie, mit Depressionen, mit Ängsten, Zwängen. Was ist denn das eigentlich alles? Das war unser Ansatzpunkt, darüber zu erzählen, um es anderen erklären zu können." Vollendet wurde das Werk dann mitten in der Pandemie.
Wir wollten zeigen, nicht alle, die depressiv sind oder Ängste, Zwänge, Persönlichkeitsstörungen haben, liegen nur zuhause im Bett, sondern sind erfolgreiche Menschen ... nicht, weil sie auf einer Bühne stehen, sondern jeden Morgen aufstehen, ihren Alltag meistern und sogar erfolgreich sind.
Almanach-Magazin-Style: Betroffene und Experten geben Auskunft
Es gibt viele Fachbücher zum Umgang mit psychischen Erkrankungen, auch Bücher aus der Perspektive von Betroffenen. Was "Nicht gesellschaftsfähig" davon unterscheidet, ist neben der freien Erzählweise die ungewöhnliche Form, die Schwarwel "Blätterbuch" nennt. Zu den Erfahrungsberichten und Interviews kommen seine Comicstrips oder Gedichte sowie Hinweise auf Hilfsangebote für Betroffene.
"Es war unser Ansatz, dass es unterhaltsam sein muss. Ich will selbst nichts Staubtrockenes lesen. Deswegen wollten wir so ein Blätterbuch machen, wo man irgendwo reinlesen kann und feststellt, ob das einen interessiert und dann liest man halt weiter", erklärt Schwarwel und meint:
Um so schwerer das Thema, um so leichter musst du das erzählen.
Und mit dieser gewissen Leichtigkeit auch gegen das Klischee arbeiten, wie Sandra Strauß hinzufügt: "Wir wollten zeigen, dass nicht alle, die depressiv sind, oder Ängste, Zwänge, Persönlichkeitsstörungen haben, nicht aus dem Bett kommen und nur Zuhause liegen. Wir zeigen hier erfolgreiche Menschen. Erfolgreich nicht in dem Sinne, weil sie auf der Bühne stehen, sondern weil sie jeden Morgen aufstehen, Zähne putzen und ihren Alltag meistern."
Diesen Alltag nun unter den Bedingungen der Pandemie zu bestreiten, bedeutete noch mehr Druck. Etwa wenn Existenzängste wegen des Jobs und des Einkommens zu bewältigen sind. Als Comic-Künstler kennt Schwarwel diese Gefühle. "Ich hatte auch so meine Zusammenbrüche aufgrund meiner Depression", gesteht er. Andererseits fiel ihm das Abstandhalten in der Pandemie nicht allzu schwer: "Der Abstand tut mir ziemlich gut, da habe ich überhaupt nichts dagegen. Für mich ist jedes Massenkonzert ein Horror. Man fokussiert sich mehr, die Achtsamkeit wird geschult. Das ist schon eine Lebenserfahrung."
Gegen die Depression ankämpfen?
Vor 14 Jahren wurde bei Schwarwel die Diagnose Depression gestellt. Auch in seinen Bildern, in seinen Figuren und Geschichten thematisiert der Mittfünfziger psychische Belastungen, über die er heute sprechen kann: "Das geht von Panikattacken bis hin zu Ängsten, von irgendwelchen Brücken springen zu wollen. Da ist das gesamte Programm durchaus darin enthalten." Auf die Frage, wie er dagegen ankämpft, sagt er:
Gegen die Depression anzukämpfen, halte ich für falsch. Ich versuche, mit ihr zu leben. Sie ist nun mal Teil von mir und macht mein Wesen aus. Das heißt, ich muss meine Dämonen umarmen. Sagen: 'OK, heute ist Scheiße, aber morgen wird vielleicht besser.'
Offenheit als Chance
Offen darüber zu reden, das ist sein Weg. Der aber wäre auch eine große Chance für andere, letztlich für die ganze Gesellschaft, findet Schwarwel: "Ich glaube tatsächlich, dass es allen helfen würde, offen mit Sachen umzugehen. Viele Belastungen kommen auch daher, dass man sich selber versteckt, sich vor anderen versteckt oder sich nicht traut. Da ist es ganz gut, wenn man Wege findet und auch anderen Leuten Wege zeigt. Egal, ob du jetzt ein Buch schreibst, einen Podcast machst oder sonst was."
Hilfe! Wenn Sie sich in einer Krise befinden ...
... wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder wählen Sie den Notruf unter 112.
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Tel. 116 111
Mo-Sa: 14–20 Uhr – kostenfrei
Elterntelefon
Tel. 0800-111 0 550
Mo-Fr: 9–17 Uhr
donnerstags bis 19 Uhr – kostenfrei
Folgende Hilfsangebote gibt es:
Erster Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Depression oder Suizidgedanken ist der Hausarzt, Psychiater oder psychologische Psychotherapeut
Wichtige Infos, Selbsttest, Podcast, moderiertes-Forum, und Adressen für Hilfsangebote bietet die Deutsche Depressionshilfe online
Hilfe und Beratung bieten auch die sozialpsychiatrischen Dienste der Gesundheitsämter
Außerdem informiert der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e.V. auf eine Webseite, u.a. zu Selbsthilfegruppen
Über Schwarwel
Thomas Meitsch alias Schwarwel, 1968 in Leipzig geboren, schuf 1987 seine Comicfigur Schweinevogel. Seitdem sind mehrere Bände erschienen.
Von 1993 bis 2011 war Schwarwel Art Director bei den "Ärzten" und schuf dabei auch zahlreiche Cover der Band. 1996 kam Schwarwel zudem für zehn Jahre als Chefredakteur zum neu gegründeten Comicverlag EEE.
Seit 2004 als freier Grafiker und Regisseur tätig, sind seitdem zahlreiche Animationsfilme entstanden, u.a. "Herr Alptraum und die Segnungen des Fortschritts", „Richard – Im Walkürenritt durch Wagners Leben“, "1813 – Gott mit uns" und 2014 feiert der Kurzfilm "1989 - Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer" Premiere.
Angaben zum Buch
Schwarwel, Sandra Strauß (Hrsg.)
Nicht gesellschaftsfähig
Alltag mit psychischen Belastungen, 3. Auflage
Glücklicher Montag
29,90 Euro
15 Euro im PDF-Format
Auf 612 Seiten in 23 Kapiteln geht es um den Alltag mit psychischen Belastungen, um zu mehr Offenheit und Entstigmatisierung beizutragen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Das Magazin | 14. Februar 2021 | 08:00 Uhr