Experten-Interview Depression: Hilfe gibt es auch beim Hausarzt
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19. Juni 2023, 09:30 Uhr
Jährlich sterben in Deutschland viermal mehr Menschen durch Selbstmord als durch einen Verkehrsunfall. Die Ursache ist häufig eine schwere Depression. Doch Therapeuten sind überlastet, Patienten müssen monatelang auf Therapieplätze warten. Wo findet man dann Hilfe? Prof. Ulrich Hegerl erklärt es im Interview. Er ist Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. "Die meisten Patienten werden vom Hausarzt behandelt", betont er. Doch das wissen viele nicht.
Inhalt des Artikels:
- An wen kann man sich wenden, wenn man kurzfristig keinen Termin beim Psychotherapeuten bekommt?
- Gibt es heute mehr Menschen mit Depressionen als noch vor einigen Jahren?
- Wie erkennt man eine Depression?
- Was raten Sie depressiven Patienten konkret?
- Was müssen Angehörige wissen?
- Telefonseelsorge hilft bei seelischen Krisen!
- Weitere Informationen
Die drängendste Frage zuerst: An wen kann man sich wenden, wenn man kurzfristig keinen Termin beim Psychotherapeuten bekommt?
Prof. Ulrich Hegerl: Eine Depression ist eine richtig schwere Gehirnerkrankung. Neben der Psychotherapie gehören deshalb auch Antidepressiva zur leitliniengerechten Behandlung und dafür sind auch Hausärzte und Fachärzte Ansprechpartner. Die meisten Patienten werden vom Hausarzt behandelt und ein Großteil auch von Fachärzten, also Psychiatern, aber das wissen viele nicht.
Deshalb ist eine wichtige Botschaft: Man muss nicht ewig auf einen Termin beim Psychotherapeuten warten, man kann auch zum Hausarzt oder zum Facharzt gehen. Beim Facharzt sind die Wartezeiten kürzer als beim Therapeuten und beim Hausarzt noch kürzer.
Gibt es heute mehr Menschen mit Depressionen als noch vor einigen Jahren oder wie kommt es zu dem Eindruck, dass die Versorgung unzureichend ist?
Prof. Ulrich Hegerl: Es ist tatsächlich eine große Lücke in der Versorgung, die sich auch dadurch ergibt, dass wir heute viel mehr Menschen haben, die sich Hilfe holen als früher, dass es die Ärzte besser erkennen und auch häufiger korrekter benennen. Als Psychotherapeut kann man im Jahr vielleicht 50 Patienten behandeln. Allein bei Depressionen haben wir jährlich etwa fünf Millionen Menschen, die diese Erkrankung haben. Das heißt, über Psychotherapeuten allein können wir das nicht abdecken, wir bräuchten wahrscheinlich mehr Fachärzte, wenn man dieses große Defizit reduzieren möchte.
Bei Frühberentungen waren es vor 40 Jahren neun Prozent wegen psychischer Erkrankungen, heute sind es 40 Prozent. Nicht weil wir mehr Erkrankungen haben, sondern weil mehr Menschen sich Hilfe holen. Und das ist auch ein Grund für eine ganz tolle Entwicklung: In den gleichen 40 Jahren gingen die Selbstmorde zurück von 18.000 auf 9.000 in Deutschland pro Jahr. Das ist immer noch eine schlimme Zahl, aber ein toller Rückgang.
Wie erkennt man eine Depression?
Prof. Ulrich Hegerl: Wir unterscheiden zwischen einer Befindlichkeitsstörung und einer richtigen Erkrankung. Als Laie fällt die Unterscheidung oft schwer, aber es gibt Hinweise sie zu erkennen: etwa Gewichtsverlust, innere Leere, Hoffnungslosigkeit. Die Menschen ziehen sich zurück aus Beziehungen oder Freundschaften.
Was raten Sie depressiven Patienten konkret?
Prof. Ulrich Hegerl: Zunächst sollte man sich informieren, sich zum Experten in eigener Sache machen. Eine Empfehlung, die ich allen meinen Patienten gebe: Man sollte versuchen, zu verstehen, wie bei einem ganz persönlich der Schlaf und die Stimmung zusammenhängen, weil es oft anders ist, als man denkt. Man ist erschöpft, geht früher ins Bett, aber oft ist es so, dass lange Bettzeiten, auch lange Schlafzeiten Depressionen-verstärkend wirken. Schlafentzug ist eine Behandlung, die in Kliniken angeboten wird.
Menschen mit Depressionen sind häufig sehr liebenswürdige Menschen, die sich für andere aufopfern und ihre eigenen Interessen vernachlässigen.
Tagesstrukturierung ist ganz wichtig, sich am Wochenende einen Wochenplan zu machen für jede Stunde, damit die Zeit strukturiert ist. Auch Angenehmes, Erholsames einbauen, aber auch Sport und Muskelentspannungstechniken sollten eingeplant werden und nicht nur Pflichten. Menschen mit Depressionen sind häufig sehr liebenswürdige Menschen, die sich für andere aufopfern und ihre eigenen Interessen vernachlässigen.
Was müssen Angehörige wissen?
Prof. Ulrich Hegerl: Auch für Angehörige ist es wichtig, sich zu informieren, zu wissen, dass man nicht schuld ist und auch nicht verantwortlich ist für die Heilung. Das Wichtigste ist, dass man den Betroffenen unterstützt, professionelle Hilfe zu suchen. Man braucht viel Geduld und Kraft und sollte sich nicht überfordern.
Telefonseelsorge hilft bei seelischen Krisen!
Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen kostenfrei rund um die Uhr: 0800 1110111 und 0800 1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf. Auf der Webseite finden Sie weitere Hilfsangebote.
Weitere Informationen
Informationen zu Ansprechpartnern und den Selbsttest "Habe ich eine Depression?" finden Sie auf der Internetseite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Ein zeitnaher Termin beim Facharzt oder Psychotherapeuten kann über die Kassenärztliche Vereinigung unter der Nummer 116 117 gebucht werden.
Bundesweites Info-Telefon Depression
"Das bundesweite Info-Telefon Depression soll Betroffenen und Angehörigen den Weg zu Anlaufstellen im Versorgungssystem weisen. Dies stellt keinen Ersatz für eine Behandlung durch einen Arzt oder Psychotherapeuten dar", betont die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Telefonnummer: 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
MDR (cbr/lk) Erstmals erschienen am 07.11.2022.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 19. Juni 2023 | 17:00 Uhr