Vermeintliche Abschaffung der "Sittenpolizei" Wie das iranische Regime versucht zu beschwichtigen
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05. Dezember 2022, 21:09 Uhr
Im Iran gehen die Proteste in eine neue Runde. Seit Montag läuft ein landesweiter dreitägiger Generalstreik, zu dem die Protestbewegung aufgerufen hat. Vorangegangen waren widersprüchliche Aussagen des iranischen Generalstaatsanwalts, die eine Abschaffung der "Sittenpolizei" implizierten. Experten sprechen von Ablenkung und einem Medienkrieg.
- Es gibt außer der kryptischen Aussage des iranischen Generalstaatsanwalts zum vermeintlichen Aus für die "Sittenpolizei" keine offizielle Bestätigung dafür.
- Politikwissenschaftler sprechen von einer Propagandaschlacht, bei der es darum gehe, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu verschleiern.
- Am Aufruf zum Generalstreik beteiligen sich viele Menschen, das Regime kündigt hartes Durchgreifen an.
Viele Medien zitierten am Wochenende den iranischen Generalstaatsanwalt Mohammed Jafar Montazeri und verkündeten unter Berufung auf eine Aussage von ihm das Ende der sogenannten Sittenpolizei im Iran. Montazeri hatte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Isna am Samstag als Antwort auf einer Konferenz gesagt: "Die Sittenpolizei hat nichts mit der Judikative zu tun und wurde von denen, die sie geschaffen haben, abgeschafft." Montazeri fügte hinzu, die Justiz werde weiterhin islamische Verhaltensregeln überwachen.
Politikwissenschaftler: Iran will mit vorgegaukelter Reformfähigkeit ablenken
Für die Aussage, dass die 2005 geschaffene Polizei-Einheit der "Sittenpolizei" geschlossen wurde, gibt es bislang von keiner anderen offiziellen Stelle im Iran eine Bestätigung. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts (AA) erklärte am Montag in Berlin, es sei abzuwarten, wie sich die Ankündigung auswirken werde. Sie wies darauf hin, dass der Generalstaatsanwalt die Sittenpolizei nicht selbst auflösen könne. Eine offizielle Bestätigung für einen solchen Schritt sei ihr bisher nicht bekannt. Im Gegenteil. Beobachter und Iran-Experten sehen in der veröffentlichten Aussage Montazeris ein Ablenkungsmanöver und eine Strategie zur Beschwichtigung. Das Regime wolle Richtung Westen Signale der Öffnung senden und gleichzeitig nach Innen – anlässlich des dreitägigen Generalstreiks – die Bevölkerung beruhigen.
"Solche Nebelkerzen gaukeln eine Reformfähigkeit des Systems vor, an die die Menschen auf der Straße schon lange nicht mehr glauben", sagt der Berliner Politikwissenschaftler und Grünen-Politiker Ario Mirzaie MDR AKTUELL. Es biete den Machthabern die Möglichkeit, mit dem Finger auf das Ausland zu zeigen und "Fake News" zu rufen. Mirzaie spielt darauf an, dass die iranischen Nachrichtenagenturen die Meldung selbst verbreitet haben. Im Anschluss folgte prompt das Dementi. Wie die regierungskritische Online-Plattform Etemad Online berichtet, stellte das iranische Staatsfernsehen klar, dass kein Beamter in der Islamischen Republik Iran bestätigt habe, dass die Patrouille (gemeint ist die "Sittenpolizei") geschlossen wurde. "Es ist eine perfide Propagandaschlacht mit dem Ziel, Wahrheit und Lüge verschwimmen zu lassen", erklärte Politikwissenchaftler Mirzaie. Die Protestierenden im Iran wollten ein Ende der Islamischen Republik, keine Reformversprechen.
Auswärtiges Amt: Menschen im Iran wollen frei leben
Das sieht auch das Auswärtige Amt so. Eine Abschaffung der Sittenpolizei im Iran wird nach Aussage der Bundesregierung nichts an den Forderungen der iranischen Bevölkerung ändern. Es gehe den seit Monaten im Iran Protestierenden nicht nur um die Auflösung der "Sittenpolizei" oder die Abschaffung des Kopftuchzwangs, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amts. Die Menschen wollten "frei und selbstbestimmt" leben. Dass die Ablösung des Mullah-Regimes die einzige Option sei, schildern auch zwei Iranerinnen – Mutter und Tochter – in einem Interview mit dem WDR. Aus Sicherheitsgründen bleiben sie anonym. Erst wenn die Islamische Republik gestürzt sei, könne man wirklich frei leben, sagen sie. Und dass sie bereit seien, dafür ihr Leben zu opfern.
Der Politologe Dr. Ali Fathollah-Nejad schätzt die Lage auf Twitter so ein, dass es den Machthabern im Iran darum geht, die Kontrolle und Bestrafung von Verstößen gegen Kleidervorschriften dezenter zu gestalten und aus dem Licht der Öffentlichkeit herauszunehmen. Er schreibt, das Vorgehen der "Sittenpolizei" solle zumindest temporär verändert werden, etwa digitalisiert mithilfe von Überwachungskameras und Gesichtserkennungssoftware aus China. Denn: Bilder von gewaltsamen Festnahmen wie im Fall von Jina Mahsa Amini könnten Untersuchungen der Vereinten Nationen nach sich ziehen.
Sollte die "Sittenpolizei" tatsächlich abgeschafft werden, hätte das keine Auswirkungen auf das Leben der Menschen – und vor allem Frauen – im Iran, da sind sich beide Wissenschaftler einig.
Schon bevor die Sittenpolizei 2005 eingeführt wurde, wurden die Kleidervorschriften brutal durchgesetzt. Sollte die Sittenpolizei abgeschafft werden, würde eine andere Institution diesen Job übernehmen. Ändern würde sich nichts.
Was man nicht vergessen solle, schreibt Ali Fathollah-Nejad auf Twitter: "Die rigiden Hijab/-Kleidervorschriften sind ein unabdingbarer Pfeiler der Islamischen Republik, untrennbar mit seiner Identität verbunden."
Der Hijab-Zwang sei eine ideologische Säule des Iran, sagt auch Ario Mirzaie. Er rechnet nicht mit einer Lockerung. Schon bevor die Sittenpolizei 2005 eingeführt worden sei, seien die Kleidervorschriften brutal durchgesetzt worden. Sollte die Sittenpolizei abgeschafft werden, würde eine andere Institution diesen Job übernehmen. Ändern würde sich nichts, ist Mirzaie überzeugt. Aus seiner Sicht wird das Regime in Teheran inzwischen allerdings nervöser. Das zeigten kürzlich veröffentlichte Geheimdokumente. Das Regime fürchte Bilder seiner Gewaltexzesse und des Autoritätsverlustes. "Es sieht seinen 'Medienkrieg' bereits als verloren an", sagt Mirzaie.
Rege Teilnahme am Generalstreik – Regime droht mit Vergeltung
Dass die Proteste im Iran auf einer sehr breiten gesellschaftlichen Basis stehen, mache die flächendeckende und branchenübergreifende Teilnahme an den aktuellen Streiks deutlich, erklärt Mirzaie. In sozialen Netzwerken waren am Montag Dutzende Videos von leer gefegten Straßen und Basaren in zahlreichen iranischen Städten zu sehen. Nach einem Aufruf der Protestbewegung ließen zahlreiche Händler und Geschäftsleute ihre Läden geschlossen. Die Bevölkerung war aufgerufen, nicht einzukaufen, um den Wirtschafts- und Geldkreislauf zu unterbrechen und das System unter Druck zu setzen.
Die iranischen Revolutionsgarden drohten umgehend mit einem harten Durchgreifen gegen die Protestbewegung. Sicherheitskräfte dürften keine Gnade zeigen für "Randalierer, Schläger und Terroristen", zitierte die halbamtliche Nachrichtenagentur Tasnim am Montag die Eliteeinheit der Streitkräfte, die zu den wichtigsten Stützen des islamistischen Regimes in Teheran gehört. Die Justiz wurde aufgefordert, des Vorwurfs der "Verbrechen gegen die Sicherheit der Nation und des Islam" Angeklagte schnell und entschlossen zu verurteilen.
mit reuters, dpa, afp
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 05. Dezember 2022 | 11:06 Uhr