Mindestens 40 Tote nach Angriff Welcher Marschflugkörper das Wohnhaus in Dnipro getroffen hat
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16. Januar 2023, 16:59 Uhr
Russischen Angriffen mit Marschflugkörpern hat die Ukraine derzeit quasi nichts entgegenzusetzen. Das hat Folgen: Am Wochenende starben 40 Menschen, als ein Marschflugkörper vom Typ X-22 in ein Wohnhaus einschlug. Helfen könnte ein westliches Abwehrsystem, das auch Deutschland nutzt.
Mindestens 40 Menschen starben am Wochenende in der ukrainischen Stadt Dnipro, als vermutlich ein russischer Marschflugkörper einen Wohnblock getroffen hat. Nach Angaben der ukrainischen Regierung war ein Marschflugkörper vom Typ X-22 in das Gebäude eingeschlagen und dort detoniert.
Dieser Lenkflugkörper wird wahlweise auch Kh-22 genannt, je nach Übersetzung der kyrillischen Schriftzeichen. Die ersten Modelle dieses Typs seien bereits in den 1950er-Jahren in der Sowjetunion entwickelt worden, sagte der Raketenexperte Markus Schiller dem MDR. Schiller betreibt eine Beratungsagentur zu Raumfahrt und Raketentechnik und lehrt an der Universität der Bundeswehr in München zum Thema Fernflugkörper.
Mit welchen Flugkörpern wurde Dnipro beschossen?
Die Technologie der Marschflugkörper sei aus derselben Zeit wie bei Scud-Raketen, die vor allem aus dem Nahen Osten bekannt seien, erklärte Schiller. "Die Kh-22 wird von russischen Tupolew-Bombern aus abgeschossen und war ursprünglich zur Bekämpfung von Schiffen konzipiert. Mit einem speziellen Modell können aber auch Landziele angegriffen werden." Das sei nun offenbar der Fall gewesen, sollte das Wohnhaus in der Ukraine tatsächlich mit einer Kh-22 beziehungsweise X-22 angegriffen worden sein. Der Marschflugkörper ist in der Regel mit über 500 Kilo Sprengstoff ausgestattet.
Marschflugkörper müssen während des Flugs fast durchgehend angetrieben werden. Anders als ballistische Raketen – die nur zu Beginn angetrieben werden und dann in einer leichter zu berechnenden ballistischen Bahn fliegen – sind Marschflugkörper deshalb relativ nah am Boden unterwegs und werden durch das eigene Radar spät erkannt.
Wurde das Wohnhaus gezielt attackiert?
Unklarheiten gab es am Samstag, ob der Marschflugkörper von Russland gezielt in das Wohnhaus gesteuert wurde. An dem Tag waren mehrere zivile Ziele in der Ukraine angegriffen worden, der Angriff in Dnipro hatte aber mit Abstand die meisten Toten zur Folge. Russland hat nach eigener Darstellung nicht den Wohnblock in Dnipro beschossen. "Die russischen Streitkräfte greifen keine Wohngebäude oder Einrichtungen der sozialen Infrastruktur an", erklärte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Einige "Vertreter der ukrainischen Seite" seien zu demselben Schluss gekommen.
Vertreter der ukrainischen Seite hätten selbst erklärt, dass die "Tragödie" am Wochenende durch die ukrainische Luftabwehr verursacht worden sei, sagte Peskow. Er spielte dabei offensichtlich auf Aussagen des Beraters im ukrainischen Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch, an.
Arestowytsch hatte kurz nach dem Angriff vom Samstag in einer Internet-Livesendung gesagt: "Sie (die Rakete) wurde abgeschossen und fiel auf den Hauseingang." Wenig später stellte der 47-Jährige allerdings klar, dass er damit lediglich eine mögliche und noch zu überprüfende Version habe schildern wollen. Die ukrainische Luftwaffe wiederum erklärte, dass sie gar nicht in der Lage sei, Raketen dieses Typs abzufangen.
Helfen Patriots gegen X-22-Flugkörper?
Die Ukraine hatte nach dem Angriff am Wochenende erklärt, dass sie derzeit nicht über Systeme zur Bekämpfung von X-22 verfüge. Laut Raketenexperte Schiller könnte ein von Deutschland gelieferter Gepard-Flugabwehrpanzer oder ebenfalls von Deutschland geliefertes Raketenabwehrsystem vom Typ Iris-T zwar theoretisch einen solchen Marschflugkörper zerstören. "Dafür müsste ein solches System aber sehr nahe am dem Angriffsziel stehen und noch sehr viel Glück haben – und das ist ziemlich unwahrscheinlich. Die X-22 ist im Anflug einfach viel zu schnell."
Anders sieht es dagegen mit Patriot-Abwehrsystemen aus, die auch Deutschland zur Verfügung stehen. Eines davon wird derzeit nach Polen verlegt, wo im November eine Rakete in einem Dorf eingeschlagen war. Die USA hatten kürzlich zudem die Lieferung einer Patriot-Batterie an die Ukraine angekündigt. "Mit Patriot-Raketen kann man X-22 vermutlich gut abwehren", sagte Experte Schiller. Das Problem sei allerdings die räumliche Begrenztheit. Denn um die Ukraine flächendeckend zu schützen, seien Patriot-Batterien an verschiedenen Stellen des Landes nötig. Die USA wollen aber offenbar derzeit nur eine Batterie liefern.
Mit Patriot-Raketen kann man X-22 vermutlich gut abwehren.
Obwohl Russland behauptet, nur militärische Ziele anzugreifen, werden immer wieder zivile Ziele attackiert. Neben Infrastruktur wie Kraftwerken wurden dabei auch wiederholt Wohnhäuser getroffen. Im Juni hatte eine X-22-Rakete zudem ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk getroffen. Damals starben mindestens 20 Menschen. Das ukrainische Militär teilte am Wochenende mit, dass Russland seit Kriegsbeginn insgesamt 210 Marschflugkörper vom Typ X-22 auf Ziele in der Ukraine abgeschossen habe. Keiner davon habe von der ukrainischen Flugabwehr abgeschossen werden können.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 16. Januar 2023 | 09:00 Uhr