Begegnung in der Straßenbahn Wie Klaus Kinkel schon 2014 den Putin verstand – und ich nicht
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18. April 2022, 11:01 Uhr
In Russlands Präsidenten Wladimir Putin haben sich viele getäuscht, die einen mehr, andere weniger. Dabei sagen nicht nur Ukrainer heute vollkommen zu Recht, dass man schon spätestens 2014 auch in Deutschland hätte wissen können, was für ein Typ der Mann im Kreml ist. Doch auch ich habe das damals noch nicht verstanden.
Ich habe mal Klaus Kinkel in der Straßenbahn getroffen, an einem warmen Frühlingstag vor Ostern 2014, Freitag oder Samstag. Auf dem Weg in die Leipziger Innenstadt stieg ich in eine Bahn, dabei meine kleinen Kinder. Die Bahn war voll. Es gab kaum Plätze. Doch schon während der hastigen Arretierung der Kinder fiel mir ein älterer Herr mit zwei Begleiterinnen auf, alle recht formell gekleidet, er den Schlips aber gelockert, dunklen Mantel über dem Arm – eindeutig: Kinkel, der ehemalige Außenminister.
Und ich konnte nicht anders: Kaum die Kinder gesichert, fragte ich ihn – verbunden mit der scheinheiligen Bemerkung, nicht stören zu wollen – ob er denn wirklich der...? "Ja, bin ich", fiel er mir lachend ins Wort, um mir meine nächste Frage gleich abzunehmen, wie er denn hier her geraten sei.
Der spinnt doch, der Putin
Die Gruppe kam von einer Veranstaltung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Störmthal bei Leipzig. Sie waren dann noch anderswo und wollten bei dem schönen Wetter nicht mit dem Auto zum Bahnhof fahren.
Friedrich Naumann (1860–1919), Vater des deutschen Liberalismus, war in Störmthal als Sohn des Pfarrers aufgewachsen. Heute beherbergt das alte Pfarrhaus eine Seminarstätte und ein Café.
Ich erzählte Kinkel, dass ich von dem Pfarrhaus mal ein schönes Foto gemacht und für eine Kirchenzeitung einen kleinen Bericht über die von der Naumann-Stiftung geförderte Sanierung geschrieben hatte. Und so wurde es dann doch noch ein kurzes Gespräch, bevor ich ihn in Ruhe ließ. Und natürlich konnte ich es – Berufskrankheit – dabei auch nicht lassen, ihn auf die Weltlage anzusprechen.
Ich warnte noch, ich sei MDR-Nachrichtenredakteur, aber nicht im Dienst. Doch das damit nicht ganz ausgesprochene, gleichwohl implizite Versprechen, ihn nicht zu zitieren, breche ich jetzt. Denn Kinkel sagte, ganz spontan zum Thema Nummer eins damals – zur Annexion der Krim durch Russland: "Der spinnt doch, der Putin!" Eigentlich dürfe man ihn damit nicht durchkommen lassen. Er fürchte aber, dass es genau so kommen werde, meinte Kinkel.
Man mag es falsch finden, Kinkel – er starb 2019 im Alter von 82 Jahren – hier zu zitieren, ohne dass er dementieren kann. Doch ich bin erstens immer noch Journalist. Zweitens ist das nun acht Jahre her, und drittens denke ich, Kinkel hätte das damals auch öffentlich gesagt – nur diplomatischer.
Und das hat er ja durchaus, wenn auch wohl ohne größeren Einfluss auf die schwarz-rote Bundesregierung, deren "stabile Leitlinien der Außen- und Sicherheitspolitik" Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) noch heute verteidigt, während die Stabilität der Ukraine ernsthaft bedroht ist.
Die Zeichen nicht erkannt
Denn Kinkel hat Recht behalten, es ist so gekommen. Damals habe ich zu wenig darüber nachgedacht. Jetzt jedoch geht mir diese Episode seit Tagen durch den Kopf. Denn ja, spätestens im März 2014 hätte man schon wissen können, dass auf einen Mann, der tut, was Putin tat, kein Verlass ist.
Ich habe damals nur wenig über diese Worte nachgedacht, weil sie ja auch eigentlich privat gefallen und für mich keine exklusiv zu verbratende News waren. Aber auch ich habe damals gedacht, die Krim sei ja doch irgendwie russisch. Auch ich habe Russland und die Ukraine damals noch nicht wirklich auseinanderhalten können. Das war dumm, weil ich es selbst schon hätte besser wissen können – auch ohne den Kinkel in der Straßenbahn.
Doch auch ich habe zu der "guten Gesellschaft" gehört, die sich in Putin getäuscht hat, vom heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier bis zu vielen anderen Menschen in Deutschland. Ich habe Putin zwar nie für einen "lupenreinen Demokraten" gehalten, aber doch für irgendwie vielleicht nicht ganz so schlimm. Dass er acht Jahre später einem europäischen Land das Existenzrecht und die demokratische Selbstbestimmung abspricht, mit einem großen Krieg – das hätte ich damals nicht für möglich gehalten.
Man lernt nie aus
Es wäre wohl besser gewesen, genauer auf den alten Kinkel zu hören und auch über seine flapsige Bemerkung länger nachzudenken. Denn der Mann war ja nicht irgendwer, auch nicht in einer Leipziger Straßenbahn.
Von 1993 bis 1995 war er auch mal Chef seiner FDP, vor allem aber war er von 1979 bis 1982 der des Bundesnachrichtendiensts, nach 1991 kurz Bundesjustizminister und dann bis 1998 deutscher Außenminister, während der Zeit der Kriege in Jugoslawien.
2007 hatte Kinkel, der zehn Jahre zuvor noch als "american minded" Außenminister an der ersten Nato-Osterweiterung mitwirkte, in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" gesagt, Putin versuche jetzt, "dem gedemütigten Russland seine Ehre zurückzugeben". Und als sein wichtigstes Mittel dazu nannte Kinkel an erster Stelle: Gazprom. Auch Kinkel mag sich damals zwar noch etwas in Putin getäuscht haben, als er etwa die Frage verneinte, ob der sich zum Diktator entwickeln werde und da zum "Gelassen bleiben" riet.
Nach 2014 jedoch äußerte er sich überzeugt, dass auf Putin kein Verlass sei, dass der eine Europäisierung der Ukraine hin zum Westen nicht hinnehmen werde. So beschrieb Kinkel beispielweise in einer Gesprächsrunde 2015 vor Publikum ziemlich hellsichtig, womit wir es heute zu tun haben.
Kinkel war also einer, der damals von den Nachrichten über die Krim mehr verstanden haben dürfte als viele andere, auch wenn er genau in jenem Jahr als Außenminister ausschied, als Putin sich in Moskau an die Macht robbte – und Deutschland die erste rot-grüne Koalition wählte, mit Gerhard Schröder als Kanzler. Den werde ich sicher nie mal in der Bahn treffen. Ich wüsste aber, was ich ihn fragen würde: Ob er das mit dem "lupenreinen Demokraten" damals wirklich geglaubt hat oder ob es ihm eigentlich egal war.
Beides sieht heute nicht gut aus – und meine eigene Beschränktheit bei diesem Thema natürlich auch nicht, zugegeben. Ich war und bin aber auch nicht Bundeskanzler und ich habe, denke ich, inzwischen etwas gelernt.
Kristian Schulze ist seit 1997 freier Nachrichtenredakteur beim MDR, stammt aus Magdeburg, lebt jedoch seit 1992 in Leipzig. Straßenbahn fährt er noch immer, nicht immer aber auf der Suche nach Themen.
Quelle: MDR AKTUELL
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 14. April 2022 | 10:30 Uhr