Interview Wenn Glaube zur Ideologie wird
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27. Januar 2017, 18:34 Uhr
Weil die russischen Machthaber Angst vor dem Volk hätten, würden sie die Nähe zur Kirche suchen, meint die Philosophie-Professorin Tatiana Chumakova von der Staatlichen Universität St. Petersburg. Geistliche als Vermittler des Volkes? Das passt nicht allen Russen.
Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Kirche und Regierung?
Man fühlt sich ein bisschen in der Zeit zurückversetzt. Die Kirche erfüllt jetzt teilweise Funktionen, die früher die Ideologische Abteilung des ZK der Kommunistischen Partei erfüllte. Wir haben nach der Perestroika auf eine Einheitsideologie verzichtet. Der Verzicht auf eine Einheitsideologie ist in unserer Verfassung sogar festgeschrieben. Konservative Politiker sprechen aber davon, dass eine "nationale Idee" notwendig sei, also eine neue Einheitsideologie.
Und diese neue Ideologie kann nach Ansicht der Politiker die Kirche liefern. Die Kirche soll das Volk schon vom Kindergarten an erziehen. Sie hat aber auch in den Hochschulen Einfluss. Kritische Lehrstuhle für "Religious studies" werden geschlossen, dafür werden Theologie-Lehrstühle gegründet. Kurzum, ich denke, dass die Kirche in Russland nichts dagegen hätte, eine Staatskirche zu werden.
Warum setzt die Politik aber so auf die Kirche?
Manche Politiker sind tatsächlich gläubige Menschen. Ich bezweifle nicht, dass beispielsweise der Gouverneur von St. Petersburg, Georgi Poltawtschenko, ein religiöser Mensch ist. Er hat sogar eine kleine Kapelle neben seinem Arbeitszimmer. An der Religiosität der anderen Politiker kann man aber seine Zweifel haben. Das sind eher Opportunisten, die gewohnt sind mal Kommunist, mal Komsomol-Mitglied, mal orthodox zu sein – morgen können sie wieder zu Kommunisten und Atheisten werden.
Der Punkt ist aber: Die Kirche hat einen relativ guten Ruf in Teilen der Bevölkerung. Und die Machthaber haben Angst vor dem Volk. Sie glauben, dass die Kirche als Vermittler zwischen Volk und Regierung fungieren kann, wenn es zu Konflikten kommt. Ich persönlich bezweifle aber, dass die Kirche wirklich eine so große Autorität hat.
Was ist die wirkliche Stellung der Kirche in Russland?
Das ist schwer zu beantworten. Die Kirche wird wieder zu einer Institution, die – wie vor der Revolution – sehr viele Immobilien besitzt. Der St. Petersburger Gouverneur Poltawtschenko hat die vergangenen 20 Jahre damit verbracht, der Kirche verschiedene wichtige Objekte zu übertragen. Überhaupt gibt es enge Verbindungen zwischen Politikern und der kirchlichen Obrigkeit. Wenn jemand es wagt, die Kirche zu kritisieren, bekommt er das Argument zu hören, die Kirche sei doch in der Sowjetunion verfolgt worden.
St. Petersburg ist ja noch eine relativ säkulare Stadt, aber in Moskau ist es schon deutlich schwieriger, die Kirche zu kritisieren. Und deshalb beginnt ein Teil der gebildeten Schicht, der Intelligenzija, die Kirche als eine staatliche Einrichtung zu betrachten, was dazu beiträgt, dass ihre Beliebtheit abnimmt. Die Kirche wird einerseits immer mächtiger dank ihres Bündnisses mit den Machthabern, andererseits verliert sie dadurch an Ansehen.
Wie macht sich das bemerkbar?
In der Gesellschaft sieht man ein ziemlich deutliches Anwachsen von Antiklerikalismus, der aber nicht unbedingt mit dem Atheismus zu tun hat. Das heißt, die Menschen sind dagegen, dass die Kirche allzu aktiv und sogar aggressiv ins gesellschaftliche Leben eindringt.