Olympische Sommerspiele 2024 Russlands Antwort auf Olympia
Hauptinhalt
27. Juli 2024, 04:04 Uhr
Bei den letzten Olympischen Sommerspielen waren es noch weit über 300, dieses Jahr lässt das Internationale Olympische Komitee (IOC) lediglich 15 Sportler mit russischem Pass in Paris zu. Ausgeschlossen sind alle, die den Einmarsch in die Ukraine öffentlich unterstützen oder einen aktiven Vertrag mit den Streitkräften haben. Wer teilnimmt, muss mit Anfeindungen rechnen.
Schon in der Sowjetunion war Leistungssport Aushängeschild und Propagandainstrument, während die Machthaber stets behaupteten, Sport sei unpolitisch. Damals, so der seit 2022 im Ausland lebende russische Sportjournalist Alexander Schmurnow, habe der Staat in Sport investiert, um "es den Amerikanern zu zeigen". Und auch heute sei Sport ein politischer Faktor. So hätten die Erfolge der russischen Mannschaft bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 das imperiale Bewusstsein des russischen Präsidenten Wladimir Putin befeuert. Sogar die kurz darauffolgende Krimannexion hätten sie begünstigt, da sich Putin durch den Medaillenregen gestärkt sah, erklärt Schmurnow. Daran, dass Sotschi von Doping-Skandalen überschattet war, erinnere man sich in Russland hingegen nicht gerne.
Russlands Alternativen zu Olympia
Während die Sowjetunion stets das Ziel verfolgte, am Weltsport teilzunehmen, gebe Russland heute vor, kein Interesse an internationalen Wettbewerben wie Olympia zu haben: "Wir brauchen niemanden. Wir werden jetzt untereinander konkurrieren, und ihr könnt uns mal", spitzt Schmurnow die offizielle Position Moskaus zu. Der Journalist bezieht sich dabei etwa auf die BRICS -Spiele, die im Juni im russischen Kasan stattfanden, einen jährlichen Sportwettbewerb, an dem in diesem Jahr unter anderem Brasilien, Indien, China, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate teilnahmen, eine Art "russische Antwort auf die Olympiade".
Für die Organisation der BRICS-Spiele wurden Milliarden von Rubel aus dem russischen Staatshaushalt bereitgestellt. Doch ihr sportliches Niveau seien eine "beschämende Angeberei" gewesen, so der in Lettland lebende russische Journalist Kirill Nabutow in einem Youtube Interview. Auch Schmurnow spricht von einem "billigen Ersatz". Der russische Sport werde ohne echte internationale Konkurrenz schwächer, so der Sportjournalist. Eine weitere russische Alternative zu Olympia, die Weltfreundschaftsspiele, wollte Wladimir Putin ursprünglich im September 2024 in Moskau und Jekaterinburg stattfinden lassen. Allerdings musste er sich von diesem Plan verabschieden und sie auf 2025 verschieben.
Russische Sportler bei Olympia als "Verräter"
Der Kreml hat schon immer berühmte Sportler für seine Zwecke benutzt, weiß der Sportjournalist des russischen Exil-TV-Senders Doschd Michail Polenow. Je bekannter ein Athlet, desto mehr brauche ihn die Propaganda. Schließlich würden Millionen von Menschen zu ihm aufschauen und er ist ein Vorbild für Millionen von Kindern. Dabei würden Sportler danach unterschieden, ob sie die Kremlpolitik unterstützen oder nicht: "Wer nicht einverstanden ist, wird zum Ausgestoßenen", so Polenow.
Obwohl die russische Regierung immer ihre Gleichgültigkeit betont, stellt die Kreml-Propaganda den Ausschluss russischer Sportler von den Olympischen Spielen als einen Versuch dar, Russland zu schaden. So warf die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa dem IOC "Rassismus und Neonazismus" vor. Das sei jedoch völlig absurd, empört sich Polenow. Ihm zufolge gibt es genug Beispiele dafür, wie viel das IOC für die russischen Sportler tue, die zur Olympiade zugelassen wurden. Die wenigen Athleten mit russischem Pass, die in Paris unter neutraler Flagge und Hymne antreten, werden allerdings von der russischen Propaganda als Verräter gebrandmarkt.
Wer nicht einverstanden ist, wird zum Ausgestoßenen.
So erklärte der Pressesprecher Wladimir Putins, Dmitri Peskow, dass jeder Sportler, der bereit wäre, den Krieg in der Ukraine zu verurteilen, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, "eine Ausgeburt der Hölle" sei und verglich ein solches Verhalten mit dem Verrat von Judas. Diese Athleten hätten keinen Stolz – eine weitverbreitete Meinung in den russischen sozialen Netzwerken und unter Sportfunktionären. Stanislaw Posdnjakow, Chef des russischen Olympischen Komitees, bezeichnete die Athleten gar als "eine Mannschaft ausländischer Agenten". Die Präsidentin des russischen Turnverbands, Irina Winer, legte nach, sie seien "eine Mannschaft von Obdachlosen".
Russischer Spitzensport ohne den Staat – fast unmöglich
Und so geraten russische Sportler ins Kreuzfeuer: Lautstarke "Patrioten" bezeichnen sie als Verräter, während einige liberale Oppositionelle von ihnen die klare Positionierung gegen den Krieg fordern. Sie tun das, obwohl viele Sportler direkt nach dem 24. Februar 2022 ihre Ablehnung des Krieges zum Ausdruck brachten, etwa der Fußballnationalspieler Fjodor Smolow oder die Tennisspieler Andrei Rubljow und Karen Chatschanow.
Alexander Schmurnow findet solche Forderungen an die Sportler seitens der Opposition völlig überflüssig. Immerhin habe das IOC die nach Paris zugelassenen Athleten bereits überprüft, um sicherzustellen, dass sie nicht "mit der einen Hand eine olympische Goldmedaille gewinnen und mit der anderen eine Entbindungsklinik bombardieren". Daher müsse man nicht päpstlicher sein als der Papst, so der Journalist: "Diese Athleten haben sozusagen bereits auf die 'Bibel' des Olympischen Komitees geschworen." Das IOC verlangt von den zugelassenen Russen die Unterzeichnung einer Erklärung, in der sie sich zur Einhaltung der Olympischen Charta verpflichten, einschließlich einer Klausel über die friedliche Mission der olympischen Bewegung. Dies müssen aber ohnehin alle Teilnehmer tun.
Gleichzeitig müsse man berücksichtigen, dass russische Athleten völlig vom Staat abhingen, betont Sportjournalist Polenow: "Das ist ein Relikt aus der Sowjetzeit: Ein russischer Sportler gehört nicht sich selbst." Nur wenige von ihnen – Weltstars wie die Stabhochspringerin Jelena Isinbajewa, die Weitspringerin Daria Klischina oder Brustschwimmerin Julia Efimowa – sind in der Lage, durch ihre Auftritte ihren Lebensunterhalt zu verdienen und auch ihr Team zu bezahlen. Für alle anderen sei die Vorbereitung auf internationale Wettkämpfe sehr kostspielig und nur die Sportverbände hätten dafür ein Budget, erklärt Polenow.
Karriere retten durch andere Staatsbürgerschaft?
Während Sportfunktionäre laute Statements abgeben und die Opposition den Athleten Feigheit vorwirft, bedeute die Nichtteilnahme an den Olympischen Spielen für viele russische Sportler ein zerstörtes Leben, so Michail Polenow. Eine Athleten-Laufbahn sei kurz: "Wie findet man zu sich selbst, wenn die sportliche Karriere unerwartet und ohne den eigenen Willen unterbrochen wird? Das ist sehr schwierig, auch psychologisch. Es ist eine Tragödie für Sportler, definitiv."
Einige russische Sportler versuchten deswegen, die Staatsbürgerschaft zu wechseln, um unter der Flagge eines anderen Landes an der Olympiade teilzunehmen. Das sei jedoch alles andere als einfach, weiß Sportjournalist Polenow und erinnert sich an ein Gespräch mit dem Hürdensprint-Europameister Sergej Schubenkow. Für den sei ein Wechsel der Staatsbürgerschaft keine Option: "Denn wenn er beispielsweise für Frankreich antreten würde, müsste er laut Regeln mehrere Monate pausieren. Und er ist schon 33 Jahre alt." Andere entscheiden sich für diesen Schritt, auch wenn damit ihre Karrieren in Russland definitiv vorbei sind. So tritt die Moskauer Tennisspielerin Jelena Rybakina, Viertplatzierte der Weltrangliste und Wimbledon-Siegerin von 2022, bereits seit 2018 für Kasachstan an.
Ausschluss Russlands von Olympia zuletzt 1984
Der Ausschluss russischer Sportler von den Olympischen Spielen stellt in jedem Fall eine Zäsur da. Doch Michail Polenow ist überzeugt, dass Russland früher oder später auf die internationale Bühne zurückkehren wird. Trotz aller Probleme, die es im russischen Sport in den letzten 35 Jahren gab, sei Russland "eine ziemlich große Nummer im Sport, wenn es um Tore, Punkte und Sekunden geht". Weder das IOC noch die Fußball- oder Eishockeyverbände wollten, dass Russland für immer aus ihrer Familie verschwindet, ist sich der Sportjournalist sicher. Schließlich sei Russland ein riesiges Land mit einer großen Bevölkerung und guten Zuschauerzahlen. Seiner Meinung nach geht es auch in der internationalen sportlichen Gemeinschaft letztlich um Geld. "Russland ist ein großer Markt", erinnert Polenow.
Vor 40 Jahren boykottierte die Sowjetunion die "feindliche" Olympiade in Los Angeles als Antwort auf die Weigerung der westlichen Länder, an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau teilzunehmen. Damals durften die sowjetischen Zuschauer das wichtigste Sportereignis nicht sehen. Auch diesmal werden die Olympischen Spiele in Russland weder im Fernsehen noch auf Streaming-Plattformen übertragen. Als Grund dafür nennt man in Moskau "mangelndes Zuschauerinteresse".
Hinweis: In der ersten Version des Artikels hieß es, die Weltfreundschaftsspiele hätten ursprünglich zeitgleich mit den Olympischen Sommerspielen in Paris stattfinden sollen. Das haben wir korrigiert.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 27. Juli 2024 | 07:17 Uhr