Justiz Russland: Putins geheime Gerichtsverfahren
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26. Oktober 2021, 11:39 Uhr
Die Zahl der Hochverratsprozesse in Russland ist deutlich gestiegen. Wurden 2010 noch 20 solcher Fälle verhandelt, waren es im vergangenen Jahr schon 50, von denen die Öffentlichkeit nur wenige Details mitbekommt. Und: Die konkreten Vorwürfe bleiben fast immer geheim.
Eigentlich galt Ilja Satschkow bis vor kurzem als einer der jungen russischen Überflieger aus der IT-Szene. Die von ihm mitgegründete Group IB ist zu einer der weltweit gefragtesten Adressen avanciert, wenn es darum geht, Hackerangriffe aufzuklären oder Cyberkriminelle dingfest zu machen. Zu seinen Stammkunden zählten nicht nur der russische Geheimdienst und große Privatkonzerne, sondern auch internationale Behörden wie Interpol und Europol. Zuletzt strebte die Group IB auf den Weltmarkt, eröffnete Niederlassungen in Singapur und Amsterdam.
Gleich drei Mal hatte der 35-jährige Jungunternehmer in den vergangenen Jahren den russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. Der Kreml zeigte sich sichtlich stolz, ein solch erfolgreiches, privates Unternehmen in einer strategisch wichtigen Branche vorzeigen zu können.
Und plötzlich kam der russische Inlandsgeheimdienst FSB
Umso größer war die Überraschung, als Anfang Oktober Beamte des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB Satschkow Handschellen anlegten. Der 35-Jährige, den russische Behörden noch vor kurzem mit Dankesurkunden überschütteten, soll Landesverrat begangen haben. Ihm drohen nun nach russischem Recht bis zu 20 Jahre Gefängnishaft. Satschkow sitzt derzeit in U-Haft, ohne Kontakt nach außen. Die konkreten Anschuldigungen, wie auch die Ermittlungen insgesamt, sowie das gesamte bevorstehende Gerichtsverfahren werden wohl geheim bleiben.
Zweifel am Vorwurf des Landesverrats
Vor allem in der IT-Branche hegen viele große Zweifel am Vorwurf des Landesverrats. Jenen, die Satschkow kennen, gilt der junge Mann als Patriot, der Geld für die Pflege von verwaisten Soldatengräbern sammelte und junge Russen immer wieder dazu riet, ihr Glück lieber in der Heimat zu suchen, statt in Übersee. In der Wirtschaftspresse kursierte das Gerücht, das Verfahren könnte mit Satschkows Wunsch zu tun haben, mehr internationale Kunden zu gewinnen und enger mit westlichen Behörden zusammenzuarbeiten. Satschkow selbst hatte vor seiner plötzlichen Festnahme in Interviews geäußert, dass seine Zusammenarbeit mit ausländischen Auftraggebern auf intern geäußerte Kritik im Kreml stieß.
Satschkows Mutter schreibt an Putin
Am Ende war es Satschkows Mutter, die in einem offenen Brief an Wladimir Putin das formulierte, was die meisten Russen bislang vor allem privat und in sozialen Netzwerken diskutieren. "Niemand wird erfahren, was man Ilja vorwirft, ob diese Vorwürfe gerechtfertigt sind oder ob er nur jemandem im Weg stand", schrieb Ljudmila Satschkowa an Putin. Dies seien nicht nur ihre privaten Gedanken als Mutter. "Der denkende Teil unseres Volkes ist schockiert". Der Fall müsse überprüft und Ilja Satschkow müsse freigelassen werden, schließlich gehe es um das "Vertrauen in den Staat".
Wie viel Vertrauen der Kreml hier überhaupt noch retten kann, bleibt allerdings zweifelhaft. Denn die Causa Satschkow ist längst kein Einzelfall in Russland. Vielmehr wirft die Verhaftung ein Schlaglicht auf eine ganze Serie von Ermittlungsverfahren, bei denen die Öffentlichkeit im Dunkeln tappt und viele Fragen unbeantwortet bleiben.
Eine Serie von Hochverratsprozessen
Besonders viel Aufmerksamkeit zog in den vergangenen Monaten der Fall des Journalisten Iwan Safronow auf sich. Einst schrieb der erfolgreiche Journalist für die angesehene Wirtschaftszeitung Kommersant. Wenige Wochen nach seinem Wechsel als Berater zur Raumfahrtagentur Roskosmos wurde er wegen Landesverrat festgenommen. Mittlerweile sitzt er bereits seit über einem Jahr in U-Haft, während die tatsächlichen Vorwürfe unbekannt sind. Deutlich weniger öffentliche Aufmerksamkeit bekam dagegen der Fall von zwei Wissenschaftlern, deren Institut zusammen mit der europäischen Raumfahrtagentur ESA an einer Studie zu Hyperschall-Flugzeugen gearbeitet hatte. Auch dort verfügten die Anwälte nur über ein Minimum an Informationen. Im vergangenen Jahr wurde ein Ehepaar wegen Landesverrats zu 12 und 13 Jahren Haft verurteilt, weil sie Berichten zufolge die Identität eines ihrer Hochzeitsgäste an Freunde in Lettland verraten haben sollen . Bei dem Hochzeitsgast handelte es sich angeblich um einen alten Schulfreund und Mitarbeiter des Geheimdienstes FSB.
Das Misstrauen in die russische Führung wächst
Einer der Gründe für das große Misstrauen der Öffentlichkeit bei solchen Verfahren ist eine deutliche Zunahme von Anklagefällen zu Straftatbeständen wie Landesverrat, Spionage und Weitergabe von Staatsgeheimnissen. Für 2010 weist die amtliche Gerichtsstatistik Russlands genau 20 Verfahren aus. Im vergangenen Jahr hatten russische Gerichte bereits 50 Menschen wegen des Vorwurfes der Spionage oder Landesverrats hinter Gittern geschickt. Freisprüche gab es in den vergangenen Jahren keine.
Für den Rechtsanwalt Iwan Pawlow, der sich auf die Verteidigung von Mandanten in solchen Verfahren spezialisiert hat, ist ein klarer Trend erkennbar. Es komme immer häufiger vor, dass Menschen ohne offiziellen Zugang zu Staatsgeheimnissen der Spionage oder des Landesverrats angeklagt werden. "Es ist sehr schwer, die Details der Anschuldigungen herauszufinden, weil die Anwälte oft zu Stillschweigeabkommen gedrängt werden", so Pawlow.
Ein anderer Grund für das große Misstrauen der Öffentlichkeit ist die Intransparenz der Verfahren. Bis 2008 hatten in Russland Geschworene noch bei Spionage-und Verratsverfahren mitentschieden. Heute dürfen nur noch vier Militär-Gerichte solche Urteile fällen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Für den Ex-Richter und Professor der Moskauer Higher School of Economics, Sergej Paschin, war die Abschaffung der Geschworenen ein grober Fehler. "Wenn der Staat bei solchen Fällen Ankläger und gleichzeitig sowohl der Geschädigte ist, als auch über den Menschen richtet, dann kann ein solcher Prozess nicht objektiv sein", sagt Paschin. Solche Prozesse müssten eigentlich immer unter Einbeziehung der Öffentlichkeit stattfinden.
Putin wiegelt ab
Der Kreml sieht jedoch bislang keinen Handlungsbedarf. Stattdessen hat Wladimir Putin mehrfach zu verstehen gegeben, dass er nicht an der Beweisführung der Ermittler und den Urteilen der Richter zweifelt. Auch im Fall Satschkow blieb der Kreml gewohnt wortkarg. Die Emotionen der Mutter seien verständlich, so Putins Sprecher Dimitrij Peskow. Gleichzeitig sollte man keine zu weit gehenden Schlüsse aus einem, wenn auch gravierenden Fall, ziehen.
Quelle: MDR
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 23. Oktober 2021 | 07:15 Uhr