Russland Putin inszeniert sich als Beschützer der Muslime
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09. November 2020, 16:53 Uhr
Die islamistische Terrorwelle in Europa löst unerwartete Reaktionen in Russland aus. Während der Kreml die Anschläge nur halbherzig verurteilt, bekommen Kritiker massenweise Morddrohungen.
Die ursprüngliche Idee für sein Plakat wollte in Moskau keine Druckerei umsetzen. Also tauschte Zuber Zolojew das Wort "Terrorist" gegen "Heuchler" und postierte sich vor der französischen Botschaft in Moskau. Just am Tag, als im französischen Nizza ein Islamist drei Menschen erstach. "Macron ist der Heuchler Nummer 1" war nun auf dem Plakat zu lesen. Der 32-jährige Programmierer Zolojew ist gläubiger Muslim und kam vor sechs Jahren aus der südrussischen Republik Inguschetien in die russische Hauptstadt. Eine Karikatur sei natürlich kein Grund zu töten, sagte er russischen Journalisten. Gleichzeitig wolle er so lange demonstrieren, bis sich der französische Präsident bei allen Muslimen der Welt entschuldigt. Außer Zolojew kamen noch einige Dutzend andere meist junge Männer vor die Vertretung Frankreichs in Moskau.
Macron: Terrorist Nummer 1
Die Haltung Zolojews und der anderen Demonstranten ist nicht etwa die Meinung einer kleinen Gruppe radikaler Islamisten in Russland. Als mehrere französische Städte nachdem Mord am Lehrer Samuel Paty ihre Verwaltungsgebäude mit Projektionen der Mohammed-Karikaturen anstrahlten, bezeichnete der Mufti der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Salakh Mezhiew, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron als Terroristen. Der Tschetschenische Regierungschef Ramsan Kadyrow verurteilte zwar den Mord an Paty, schoss jedoch gleichzeitig ebenfalls scharf gegen den französischen Präsidenten, der den Islam als "Religion in der Krise" bezeichnete. Macron provoziere Muslime geradewegs dazu, Verbrechen zu verüben, sagte Kadyrow. Und auch der äußerst populäre russische Kampfsportler Khabib Nurmagomedow, mit 25 Millionen Followern auf Instagram extrem reichweitenstark, ereiferte sich öffentlich. "Ich wünsche, dass der Prophet Macrons Gesicht entstellt", schrieb er an seine Follower und erntete tausendfache Zustimmung in den Kommentaren. Als dann vor einer Woche in Wien vier Menschen bei einem weiteren islamistischen Anschlag ermordet wurden, konnten sich weder Kadyrow noch sein Mufti Mezhiew zu einer Reaktion durchringen.
Offiziell bemühte sich der Kreml darum, die Wogen zu glätten. "Für Außenpolitik ist der Kreml zuständig" kommentierte Putins Sprecher den Streit. Putin schickte Beileidstelegramme nach Wien und Paris und telefonierte mit dem österreichischen Kanzler. Doch vergangenen Mittwoch nutzte der Kremlchef ein Treffen mit religiösen Führern Russlands für einen kaum versteckten Seitenhieb Richtung Westen. Die Situation in einer ganzen Reihe europäischer Staaten sei schwierig, sagte Putin. "Wir sehen verschiedene Provokateure, die unter dem Deckmantel der Redefreiheit die Gefühle religiöser Menschen beleidigen. Und andere, die dies nutzen, um ihre Gewalt zu rechtfertigen", sagte der Kremlchef. Ein Gesetz nach russischem Vorbild, dass die Beleidigung religiöser Gefühle verbietet, würde Abhilfe schaffen, so Putin. Eine Zeitschrift wie Charlie Hebdo könnte es in Russland legal gar nicht geben, kommentierte auch Putins Sprecher Dimitri Peskow.
Putins riskanter Flirt
Diese Haltung scheint auf den ersten Blick widersprüchlich, denn Terroranschläge geschehen auch in Russland regelmäßig. Und die Geheimdienste gehen mit aller Härte gegen Islamisten vor. Trotzdem will der Kreml die Situation offenbar nutzen, um sich als Schutzpatron all jener ins Spiel zu bringen, die dem Westen skeptisch gegenüber stehen, meint etwa der unabhängige Politikberater und Publizist Fjodor Kraschennikow. "Obwohl der Flirt mit den Islamisten für Russland potenziell riskant ist, kann der Kreml taktisch davon profitieren, wenn er sich nun als Beschützer der beleidigten Muslime darstellt", kommentiert Kraschennikow. Vor allem innenpolitisch hofft Putin auf mehr Rückhalt unter den etwa 20 Millionen russischen Muslimen.
Morddrohungen an Politiker und Journalisten
Dass der Flirt tatsächlich riskant ist, zeigt der Riss innerhalb der russischen Gesellschaft. Denn längst nicht alle in Russland sind mit der Haltung der heimischen Macron-Kritiker einverstanden. Doch wer seine Kritik öffentlich äußert, muss mit harschen Reaktionen rechnen. Diese Erfahrung machte zuletzt die populäre TV-Moderatorin und Journalistin Xenia Sobtschak, die vor zwei Jahren internationale Bekanntheit erlangte, als sie gegen Putin bei der Präsidentschaftswahl antrat. Kadyrow demonstriere ein "mittelalterliches Verständnis von einem Angriff auf vermeintliche Werte", schrieb Sobtschak als Reaktion auf Kadyrows Kritik gegenüber Macron. "Wenn ihr die Zeichnungen nicht sehen wollt, dann schaut weg", fügte sie hinzu. Seither bekämen sie und ihre Familie immer wieder Morddrohungen, so Sobtschak. Ähnliche Erfahrungen machte der Oppositionspolitiker Andrej Piwowarow aus Sankt Petersburg. Er hatte den Kampfsportler Khabib Nurmagomedow in einem YouTube-Video wegen dessen Macron-Kritik als "Schande Russlands" bezeichnet. Prompt gingen auch bei ihm dutzende Morddrohungen ein. In einem weitern Video erklärte Piwowarow, dass die verbalen Angriffe gegen Macron nur noch mehr Gewalt provozieren könnten. "Ich bin kein Feind des Islam, ich rufe nur zu Frieden auf".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 06. November 2020 | 07:00 Uhr