Pandemie Corona in Russland: Augen zu und durch!
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26. Oktober 2020, 05:00 Uhr
In Russland werden täglich mehr Tote und Infizierte registriert als im Frühling. Doch der Kreml beeilt sich nicht mit neuen Einschränkungen. Vor allem wegen wirtschaftlicher Probleme im Land.
Leichen wohin der Blick fällt. In schwarze Säcke verpackt säumen sie den Gang eines Krankenhauses in Barnaul. Dutzende liegen auf Krankenbetten, andere einfach auf dem Boden. Fast anderthalb Minuten geht der kurze Videoclip, den ein Unbekannter vor wenigen Tagen filmte und anonym ins Netz stellte. "So sieht die schöne Statistik aus", sagt der Autor des Videos im Hintergrund.
Das Gesundheitsministerium der Region Altai bestätigte inzwischen, dass das Video kein Fake ist, wie anfangs viele in Russland dachten. Das Video sei echt und zeige tatsächlich am Coronavirus verstorbene Patienten. Das regionale Krankenhaus, das für die Covid-19-Patienten zuständig ist, komme nicht mehr mit den Obduktionen nach, das Leichenhaus sei überfüllt. "Wir arbeiten in zwei Schichten und am Wochenende", sagte der Chef-Pathologe der Region einem regionalen TV-Sender.
Dramatische Situation in Russland
Die Situation in dem entlegenen Teil Russlands mag selbst für russische Verhältnisse gravierend sein. Doch klar ist, dass die zweite Welle der Corona-Pandemie auch den Rest des Landes längst erfasst hat. Die Zahl der Neuinfektionen und Todesopfer hat die Höchststände vom Mai weit übertroffen. Zuletzt haben sich nach offiziellen Angaben täglich fast 17.000 Menschen mit dem Virus infiziert. Auf dem Höhepunkt der ersten Welle waren es landesweit rund 11.000. Am Sonntag zählten die Behörden 229 Todesfälle. Der bisherige Negativ-Rekord vom Mai lag bei 232 Toten an einem Tag.
Vor zwei Monaten hatte Putin noch das Ende der Pandemie verkündet
Dabei ist es kaum zwei Monate her, als Präsident Wladimir Putin den vorläufigen Sieg über die Pandemie verkündet hatte. "Wir gehen aus der Pandemie mit minimalen Verlusten hervor", sagte der Präsident noch im Juli. Seitdem folgte eine weitgehende Lockerung der Hygienemaßnahmen und Einschränkungen. Zuletzt priesen staatliche Medien nicht nur den einheimischen Impfstoff Sputnik V, sondern auch einheimische Medikamente, die angeblich eine Behandlung von Covid-19 in den eigenen vier Wänden möglich machen würden. Gleichzeitig ließ auch die Hygiene-Disziplin der Russen nach. In Geschäften und auch im öffentlichen Nahverkehr hatte kaum jeder zweite eine Maske ordnungsgemäß über Mund und Nase gezogen – stattdessen baumelte sie bei vielen am Kinn.
Bars und Clubs in Sankt Petersburg geschlossen
Dass die Situation sich nun dramatisch zuspitzt, ist allerdings keine Überraschung. Schon im Mai hatte die Regierung gewarnt, dass die zweite Welle im Oktober und November unausweichlich sei. Gleichzeitig sieht sich der Kreml derzeit nicht veranlasst, weitgehende Einschränkungen, geschweige denn einen landesweiten Lockdown einzuführen. Bisher wurden zwar die Herbstferien in den Schulen verlängert. Auch hatte Moskaus Stadtverwaltung die Unternehmen verpflichtet, einen Teil der Mitarbeiter im Homeoffice zu lassen. In Sankt Petersburg dürfen Bars und Clubs ab heute nachts nicht mehr aufmachen. Doch ansonsten funktioniert der Alltag ohne größere Einschränkungen.
Wladimir Putin: keine "totalen Einschränkungen" geplant
Bereits am Mittwoch vergangener Woche sagte der russische Präsident, dass "totale Einschränkungen" nicht geplant seien. Die Mediziner hätten gelernt, dem Virus die Stirn zu bieten. Die höhere Sterblichkeit im Vergleich zum Frühjahr erklärte Putin mit einer genaueren Erfassung der Todesursachen. Tatsächlich scheint das Gesundheitssystem, anders als im Frühling, noch nicht an seine Grenze zu stoßen. In Sankt-Petersburg etwa bleiben derzeit noch rund 950 von insgesamt 6.200 für Covid-Patienten reservierte Betten frei. Gleichzeitig wurde eine ehemalige Ausstellungshalle zum provisorischen Krankenhaus umfunktioniert und könnte zusätzlich Infizierte aufnehmen. Auch in Moskau sind noch Kapazitäten frei.
Dass jedoch neue Medikamente oder gar der Impfstoff bei dieser Welle bereits Abhilfe schaffen, ist beinahe ausgeschlossen. Aus dem Gamaleja-Institut, an dem der Impfstoff Sputnik V entwickelt wurde, hieß es zuletzt, dass eine landesweite Impfkampagne bis zu 10 Monaten dauern könnte.
Corona macht der russischen Wirtschaft zu schaffen
Einer der Gründe für die derzeit wenig strengen Corona-Schutz-Maßnahmen sind die wirtschaftlichen Probleme im Land. So war es der branchenübergreifende Unternehmerverband RSPP, der Putin öffentlich darum gebeten hatte, auf einen Lockdown zu verzichten. Ein solcher würde das endgültige Aus für viele kleine und mittlere Unternehmen bedeuten, hieß es in einer Erklärung. Gerade hatte sich die Wirtschaft im dritten Quartal nach der sommerlichen Lockerung aufgerappelt und schrumpfte im Jahresvergleich nur noch um 3,8 Prozent. Im zweiten Quartal war das Minus mit 8,5 Prozent deutlich größer ausgefallen.
Putin will gute Umfragewerte nicht aufs Spiel setzen
Wladimir Putin musste sich nicht lange überreden lassen. Schließlich sind auch seine Umfragewerte während des Lockdowns auf den tiefsten Stand seit Beginn seiner Amtszeit gesunken. Im Mai vertrauten laut einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts nur noch 25 Prozent der Russen ihrem Präsidenten. Nach der weitgehenden Normalisierung im August schnellte der Wert auf 33 Prozent hoch. Diese relativ guten Zustimmungswerte will Putin natürlich nicht aufs Spiel setzen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 23. Oktober 2020 | 17:45 Uhr