Knappes Rennen Polen wählt – die PiS zittert um ihre Macht
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17. Oktober 2023, 07:25 Uhr
Die heutige Parlamentswahl entscheidet, ob der EU-feindliche, autoritäre Kurs Warschaus fortgesetzt wird. Ein Sieg der Opposition könnte zur Beilegung der langjährigen Konflikte mit Brüssel und zur Wiederbesinnung auf freiheitlich-demokratische Werte führen. In den Augen vieler Polen ist es eine Schicksalswahl – und ihr Ausgang wird äußerst knapp sein.
Dieses Mal kann man die Wahlwerbung nicht nur auf Plakaten, sondern oft auch in sehr untypischer Form sehen: Mit Photoshop retuschierte Politiker-Gesichter lächeln einen auch von Lebensmitteletiketten, Gewürzverpackungen, Kindersäften oder Einmachgläsern mit Sauergurken an. Doch das ist nicht das einzige Novum: Die Temperatur der Studiodebatten ist hoch, die Sprache viel brutaler als in allen bisherigen Wahlkämpfen und die erwartete Wahlbeteiligung so hoch wie noch nie.
Die Hauptauseinandersetzung verläuft zwischen der nationalistisch-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński, die seit 2015 in Polen regiert, und den linksliberalen Oppositionsparteien mit dem Ex-Premierminister Donald Tusk (2007-2014) an der Spitze.
Das Interesse an der Wahl ist groß. Die Wahlbereitschaft der Polen liegt diesmal laut Umfragen bei 77 Prozent. Nach 1989 lag die Wahlbeteiligung nur selten über 60 Prozent. Bei der letzten Parlamentswahl 2019 betrug sie 61,74 Prozent.
Zwei "Zünglein an der Waage"
Fünf Parteien und Bündnisse haben eine Chance auf Parlamentsmandate. Laut verschiedener Umfragen würde die PiS zwischen 34 und 39 Prozent der Stimmen bekommen. Die größte Oppositionskraft, die Bürgerkoalition ("Koalicja Obywatelska", KO), liegt auf Platz zwei mit Umfragewerten zwischen 27 und 37 Prozent. Danach kommen die Neue Linke mit ungefähr zehn Prozent und die rechtsradikale Konföderation ("Konfederacja"), die sich für die Zeit des Wahlkampfes von ihren nationalistischen Wurzeln distanziert und zu einer liberalen Partei der Mitte stilisiert, die in den meisten Umfragen etwa acht oder neun Prozent bekommt.
Das christkonservative Wahlbündnis Dritter Weg ("Trzecia Droga", TD), das sich politisch und weltanschaulich in der Mitte zwischen der liberalen Bürgerkoalition und der regierenden PiS positioniert, würde laut Umfragen zwischen sechs und elf Prozent bekommen. Doch während die Sperrklausel für Parteien bei fünf Prozent liegt, müsste der Dritte Weg als Wahlbündnis von zwei Parteien mindestens acht Prozent bekommen, um ins Parlament zu kommen.
Aus diesem Grund ist der Dritte Weg das Zünglein an der Waage bei diesen Wahlen, weil die Opposition nur dann eine Regierung bilden kann, wenn der Dritte Weg es ins Parlament schafft. Andernfalls könnte die PiS, die vermutlich als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgeht und deshalb bei der Verteilung der Mandate vom Wahlsystem begünstigt wird, an der Macht bleiben. Der natürliche Koalitionspartner der PiS wäre die Konföderation.
Die Konföderation könnte dann zum Zünglein an der Waage werden, wenn die PiS relativ schlecht abschneidet, die Opposition aber ebenfalls keine ausreichende Mehrheit zustande bringt. Zwar schließt die Konföderation eine Koalition mit der PiS derzeit aus, viele Polen betrachten das aber nur als eine taktische Aussage und gehen davon aus, dass sich die Partei nach der Wahl mit Regierungsämtern "bestechen" lassen könnte. Außerdem zeigen bisherige Erfahrungen, dass solche politischen Newcomer nach dem Einzug ins Parlament oft auseinanderbrechen. Für die PiS wäre es dann ein leichtes, einzelne Abgeordnete der Konföderation zu übernehmen, was sie in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit schon mehrmals tat.
Bleibt Polen auf Kollisionskurs mit der EU?
Die PiS will ihre jetzige Politik fortsetzen, wenn sie an der Macht bleibt. Das würde bedeuten, dass der Kurs gegen freiheitlich-liberale und demokratische Werte verstärkt wird und die darauf beruhenden Konflikte mit der EU sich weiter zuspitzen. Die letzten acht Jahre wurden vom Streit mit Brüssel um die Rechtsstaatlichkeit geprägt, weil die PiS-Regierung die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter demontiert hat.
Die EU wertet das als Verstoß gegen die Dreiteilung der Macht und hat gegen Polen mehrere Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingeleitet. Wegen der fehlenden Kompromissbereitschaft der PiS-Regierung werden Polen die Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds vorenthalten. Auch der Missbrauch der öffentlich-rechtlichen Medien als Propagandainstrument ist von der EU mehrmals scharf kritisiert worden.
Eine heiße Frage – das Abtreibungsverbot
Zum PiS-Erbe gehört auch die Verschärfung der Abtreibungsregelungen, die auch so schon zu den restriktivsten in Europa gehörten. Im Herbst 2020 fanden in Polen "schwarze Märsche" statt, nachdem das PiS-hörige Verfassungsgericht die neuen Restriktionen verhängt hatte. Seitdem darf eine Schwangerschaft nur dann abgebrochen werden, wenn sie durch eine Vergewaltigung entstanden ist oder das Leben und die Gesundheit der Frau gefährdet.
Zu dieser brisanten Frage hört man aber von den Parlamentskandidaten nur selten klare Worte. Nur die Neue Linke befürwortet die Legalisierung der Abtreibung bis zur 12. Woche in ihrem Wahlprogramm. Donald Tusk von der Bürgerkoalition hat sich zwar ebenfalls dafür ausgesprochen, doch im offiziellen Wahlprogramm fällt dazu kein Wort. Der Dritte Weg fordert ein Referendum zum Abtreibungsrecht, und in der Konföderation hört man sogar Stimmen, die Gefängnisstrafen für die Abtreibung fordern. Die PiS meidet das unbequeme Thema.
Antideutsche und EU-kritische Stimmen
Dafür schlagen die Regierenden in diesem Wahlkampf starke antideutsche und EU-kritische Töne an. Die PiS "malt Deutschland an die Wand" und stellt Oppositionsführer Donald Tusk als einen prodeutschen und damit antipolnischen Politiker dar. In der Wahldebatte von TVP verstieg sich Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zu der Aussage "Gene kann man nicht unterdrücken", womit er auf die angebliche deutsche Abstammung von Tusk anspielte – eine Lüge, die die Staatspropaganda seit Jahren unermüdlich lanciert.
Alles Böse kommt in der PiS-Optik aus der EU, die von Berlin aus gesteuert werde. Nach dem EU-Gipfel in Granada am 5. Oktober sprach der regierungstreue öffentlich-rechtliche Sender TVP von einem "deutschen Migrationspakt" und einer "absurden Zwangssolidarität". Donald Tusk wird als "deutscher Agent" und "Verräter" dargestellt. Außerdem will Kaczyński Polen von einer angeblichen "Opfermentalität" befreien und fordert von Deutschland Kriegsreparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro.
Skandale, die der PiS nicht schaden
Der Endspurt des Wahlkampfs wurde von Skandalen überschattet. Im September hatten Investigativjournalisten der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" enthüllt, dass polnische Konsulate in Staaten außerhalb der EU, vor allem in Afrika, über Drittfirmen Tausende EU-Visa gegen hohe Geldzahlungen ausgestellt haben. Diese Migranten, die nach offiziellen Aussagen der PiS unerwünscht sind, konnten so nach Polen und weiter nach Deutschland einreisen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz die steigenden Flüchtlingszahlen an der deutsch-polnischen Grenze kritisierte, warf ihm Warschau "Frechheit" vor.
Eine weitere Bombe auf der Zielgeraden: Nur eine Woche vor der Wahl sind zwei hochrangige Generäle zurückgetreten. Medienberichten zufolge wollten sie so u.a. gegen den Missbrauch des Militärs für Wahlkampfzwecke protestieren. PiS-Politiker veranstalten seit Monaten besonders gerne Pressekonferenzen, bei denen Soldaten als Kulisse herhalten müssen – so will die Partei ihrer These Nachdruck verleihen, dass Polen in Kriegszeiten nur mit der PiS am Steuer sicher sei.
Interessant ist, dass diese Skandale, wie viele andere, an denen die achtjährige Regierungszeit der PiS reich war, kaum Einfluss auf die Wahlpräferenzen haben. Im PiS-regierten Polen scheinen politische Affären Normalität geworden zu sein – jedenfalls lassen sich die Stammwähler der PiS davon kaum beeindrucken.
Knapper Wahlausgang erwartet
Wer in Polen demnächst regieren wird, ist unterdessen angesichts der schwankenden Umfragewerte und der zu erwartenden knappen Mehrheiten nach wie vor ungewiss. Die PiS und das Oppositionslager liefern sich bis zum Schluss ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und am Ende könnten nur einige Tausend Stimmen Vorsprung die Wahl entscheiden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 14. Oktober 2023 | 07:17 Uhr