Trolljäger Polen
Mateusz Cholewa widerlegt bei der polnischen Organisation "Demagog" Fake News. Bildrechte: MDR/Mateusz Cholewa

Gegen Fake News "Trolle müssen Angst bekommen" – Polen wehrt sich gegen anti-ukrainische Hetze

05. April 2022, 13:00 Uhr

Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben Falschinformationen über ukrainische Flüchtlinge in Polen dramatisch zugenommen. Geschichten über Diebstähle, Schlägereien und sogar Mord werden im Netz verbreitet. Doch Aktivisten und polnische Institutionen versuchen, diese Fake News zu enttarnen.

"Es war eine echte Explosion von Fake News", erinnert sich Mateusz Cholewa, als in den ersten Kriegstagen hunderttausende Flüchtlinge in Polen ankamen. Cholewa arbeitet für die polnische NGO "Demagog". Sechs fest angestellte Analysten und etwa 40 externe Mitarbeiter befassen sich täglich mit der Verifizierung von im Internet veröffentlichten Informationen. Bis zum 24. Februar entlarvten sie Falschinformationen über Politiker und die Corona-Pandemie. Doch seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine konzentriert sich das Team um den Polen auf Unwahrheiten über Ukrainer und Ukrainerinnen in seinem Land.

Besonders in den ersten Tagen seien es Geschichten aus der Grenzstadt Przemyśl gewesen, so Cholewa: "Es ging vor allem um die Zunahme von Gewalt und Kriminalität." Der Netzanalytiker ließ die Informationen über angebliche kriminelle Handlungen bei örtlichen Dienststellen überprüfen: Polizei, Rettungsdienst sowie die polnische Handelskammer dementierten jedoch eine Zunahme von Diebstählen in Geschäften, Schlägereien oder gar Morden, die angeblich von Ukrainern begangen wurden.

Russische Web-Domains – doch keine Beweise

Doch auch wenn nichts hinter den Geschichten steckt, verbreiten sie sich rasant im Internet. "Demagog" spürte ein ganzes Netzwerk von Konten auf Instagram auf, die sich als lokale Nachrichtenportale ausgaben und falsche Informationen lieferten. In einem Post klang das zum Beispiel so: "Polizei: In zehn Tagen haben Flüchtlinge aus der Ukraine 789 Straftaten auf polnischem Gebiet begangen. Das Hauptproblem sind Diebstähle in Geschäften und Supermärkten." "Demagog" deckte die Falschmeldung auf und informierte darüber auf seinen Social Media-Kanälen. Andere Nutzer reagierten auf diese Analyse und meldeten die Fake News bei Instagram. Als Folge wurden die Posts von der Social Media-Platform gelöscht. Doch noch bevor sie entfernt wurden, konnte "Demagog" feststellen, dass alle Konten auf E-Mail-Adressen einer russischen Web-Domain registriert waren. Die E-Mail-Adressen aus Russland sind Hinweise darauf, dass die Falschinformationen von dort stammen, jedoch noch keine Beweise, warnt der Experte: "Meistens können wir nur Vermutungen anstellen, aber wir können sie nicht bestätigen."

Kompromisslose Methoden

Fake News werden nicht nur von Organisationen wie "Demagog" enttarnt, auch Privatpersonen versuchen, Unwahrheiten im Netz zu verfolgen. Marcin Rey ist einer der bekanntesten Aktivisten in Polen, der Desinformationen aufspürt, die eine anti-ukrainische Stimmung im Land verbreiten. "Ich bekomme 200 Nachrichten pro Tag", sagt er mit Stolz in der Stimme.

Rey stand erst kürzlich im Rampenlicht, als es ihm Ende März 2022 gelang, die Person aufzuspüren, die das Profil "ein Ukrainer ist NICHT mein Bruder" betrieb, dem fast 55.000 Menschen auf Facebook folgten. Die Betreiberin war eine polnische Lehrerin. "Diese Seite beschäftigte sich mit der Stigmatisierung von ukrainischen Migranten, veröffentlichte fremdenfeindliche Inhalte sowie fast jeden negativen Bericht über Ukrainer aus der polnischen Presse", erklärt Marcin Rey im Interview mit dem MDR. Der Aktivist betont, dass das Facebook-Profil seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 anti-ukrainische Inhalte veröffentlicht habe, in den letzten zwei Jahren habe es sich dann auf Impf- und Corona-skeptische Inhalte verlegt. Und drei Wochen vor dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine kehrte es erneut zur Verunglimpfung der Ukrainer zurück. "Das riecht alles sehr nach einer Art externer Koordination", meint Rey.

Marcin Rey
Aktivist Marcin Rey macht es vor: Als Einzelner kann man viel gegen Falschmeldungen tun. Bildrechte: Marcin Rey/MDR

Um den Trollen das Handwerk zu legen, stellt er sie öffentlich bloß: "Meine Methoden sind kompromisslos. Ich nenne die Trolle beim Namen, ich gebe an, wo sie arbeiten. Die Trolle müssen Angst bekommen", argumentiert Rey. Erst vor Kurzem wurde die Lehrerin entlassen, die Rey als Betreiberin des Accounts "ein Ukrainer ist NICHT mein Bruder" enttarnt hatte. Eigentlich ist der Aktivist Übersetzer für Französisch. Trolle-Entlarven macht er abends nach seinem Job, quasi als Hobby. Eine riskante Beschäftigung, er und seine Familie erhalten regelmäßig Drohungen.

Marcin Rey verwendet häufig medizinisches Vokabular, wenn er über Desinformation spricht. Wie etwa: "Wenn die Russen einen Virus erfunden haben, der uns mit Informationen infiziert, dann brauchen wir Antikörper." Er verweist dabei auf Litauen als Beispiel, wo eine Bewegung von so genannten "Elfen" begann, massiv gegen Beiträge vorzugehen, die ein Element russischer Desinformation sein könnten.

"Ein, zwei oder drei Mal höflich schreiben, dass der Verfasser des Kommentars falsch liegt und dass er die Darstellung des Kremls verbreitet." Wenn jemand trotzdem auf den Fehlinformationen beharre, sei jedes Mittel recht, auch ein deutlich rauerer Ton in den Kommentaren "Nur eines zählt, nämlich dass unser Kommentar am Ende mehr Likes hat als der unseres Gegners. Das ist Krieg", schließt er mit Nachdruck.

"Ukrainerinnen wollen polnischen Frauen die Männer ausspannen"

Mateusz Cholewa von "Demagog" argumentiert, dass dank des Engagements vieler Behörden und der Gemeinschaft der Faktenchecker die Radikalisierung der polnischen öffentlichen Meinung verhindert werden konnte. Mehr als einen Monat nach Ausbruch des Krieges sind die meisten Polen immer noch bereit, den Ukrainern zu helfen. So haben die meisten Geflüchteten eine Unterkunft in polnischen Privathäusern gefunden. Doch die permanente Desinformation geht weiter, Cholewa und seine Kollegen haben noch viel zu tun. "Die ersten Fake News konzentrierten sich auf die Androhung von Gewalt, inzwischen ist immer öfter davon die Rede, Ukrainer würden im polnischen System bevorzugt," erklärt Cholewa. So würden etwa alle ukrainischen Flüchtlinge das Wahlrecht erhalten und sie könnten sich auf mehr Sozialleistungen einstellen als polnische Familien. Ebenso ist in Foren zu lesen, Ukrainerinnen, die bei Privatleuten untergekommen sind, würden polnischen Frauen ihre Ehemänner wegnehmen wollen. Dies sind nur einige unter tausenden unwahren Nachrichten, die jeden Tag im Internet verbreitet werden.

"Kommentare, die Desinformation bekämpfen, sollten zahlreicher sein als die Beiträge der Trolle selbst", betont Marcin Rey. Kurz nach Kriegsausbruch habe er deswegen sogar seine Arbeit schleifen lassen. Doch seiner Meinung nach gibt es noch nicht genügend polnische "Normalbürger", die aktiv auf Desinformation antworten.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 02. Februar 2022 | 05:40 Uhr

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