Interview zu EU-Belarus-Sondergipfel Osteuropaexperte: "Oft handelt die EU erst, wenn es schon zu spät ist"
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01. Oktober 2020, 10:39 Uhr
Seit den gefälschten Präsidentenwahlen in Belarus protestieren Tausende Belarussen regelmäßig auf den Straßen. Als Konsequenz auf Lukaschenkos Wahlbetrug erarbeitete die EU eine Sanktionsliste mit mehr als 40 Betroffenen. Heute soll erneut darüber verhandelt werden. Viele Informationen sickerten im Vorfeld des Sondergipfels nicht durch. Wir sprechen mit Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge über die Hintergründe zu möglichen Sanktionen gegen Belarus.
Heute kommt die EU zusammen, um erneut über Sanktionen zu beraten. Denn die bisher ausgearbeitete Liste kann nicht in Kraft treten, weil Sanktionsbeschlüsse in der EU einstimmig gefasst werden müssen und Zypern die Einstimmigkeit bisher blockierte. Herr Jilge, was kann man vom EU-Sondergipfel zu Belarus erwarten – wird es Sanktionen gegen Belarus geben?
Es wird schwierig sein, Sanktionen durchzusetzen. Das wird vor allem davon abhängen, wie man auf dem Gipfel mit Zypern reden können wird. Die Aussichten dafür sind nicht ganz einfach, weil für Zypern gleichzeitige EU-Sanktionen gegen die Türkei wegen des Gasstreits im östlichen Mittelmeer fordert. Deutschland lehnt eine Verknüpfung beider Sachverhalte jedoch ab.
Die überwiegende Mehrheit der EU-Staaten, insbesondere auch Deutschland sowie Polen und Litauen, möchte aber ein klares Signal an das Lukaschenka-Regime in Belarus senden. Dabei ist Geschlossenheit wichtig. Aber das Prinzip der Einstimmigkeit behindert heute die EU-Außenpolitik in zentralen Fragen massiv.
EU-Chefdiplomat Josep Borrell sieht die Glaubwürdigkeit der EU gefährdet, sollte es zu keiner Entscheidung kommen. Nun machen einige Länder wie Litauen oder Polen Alleingänge. Diese Woche haben Kanada und Großbritannien bereits Sanktionen gegen Belarus verhängt. Was ist davon zu halten?
Alleingänge sind am Ende nicht die Lösung, ein nicht vollwertiger Ersatz könnte sein, dass eine breite Koalition williger EU-Staaten voranschreitet. Man muss in der EU-Außenpolitik auf Dauer vom Einstimmigkeitsprinzip wegkommen und zum Mehrheitsprinzip gelangen, zumindest in Fragen von Sanktionen und Menschenrechten. Sonst ist die EU außenpolitisch in Krisen kaum handlungsfähig und wird angesichts auftrumpfender Mächte wie Russland und China ihre Werte und freie Art zu leben nur schwer schützen können.
Sanktionen sind ganz wichtig, weil sie die Nichtanerkennungspolitik der EU gegenüber dem Regime Lukaschenko und damit einem Präsidenten, der sich in einer Nacht und Nebelaktion hat zum Präsidenten ausrufen lassen, ohne dass es Neuwahlen gegeben hätte, Nachdruck verleihen. Auch wenn ihre Wirkung auf die Machthaber unklar ist: Für die demokratische Opposition in Belarus sind sie ein wichtiges Zeichen der Solidarität.
Ob Sanktionen tatsächlich Herrn Lukaschenka zu Gesprächen mit der Opposition bewegen, ist sehr fragwürdig. Er hat sich zur Rettung seiner persönlichen Macht im Grunde gänzlich in die Abhängigkeit von Russland begeben und hat sein Schicksal an die Unterstützung Putins geknüpft.
Wilfried Jilge ist Osteuropa-Historiker und Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Außerdem ist er Mitglied der Experten- und Strategiegruppe "Schlüsselstaaten" des Projekts "Strategien für die EU-Nachbarschaft" der Bertelsmann Stiftung, wo er für Russland und Osteuropa zuständig ist.
Russlands Staatschef Wladimir Putin hat einen "beispiellosen Druck von außen" auf Belarus beklagt. Moskau stehe weiterhin an der Seite der Führung in Minsk, betonte Putin am Dienstag anlässlich eines russisch-belarussischen Forums. Die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten seien "zeitlos und wetterfest". Welche Möglichkeiten hat die EU, auf Putin Einfluss zu nehmen?
Am Ende wird Moskau, nicht Lukaschenka eine entscheidende Rolle spielen, wie es in Belarus weitergeht. Und das bedeutet insgesamt, dass sich die EU gegen Russland ganz anders aufstellen muss. Sanktionen gegen das Regime von Lukaschenko reichen nicht aus. Da spielt natürlich auch eine Rolle, ob Russland verstanden hat, dass der Fall Nawalny und der Anschlag auf ihn, etwas in Gang gesetzt haben, was tatsächlich zu einer Veränderung führt.
Deutschland setzt auf Sanktionen, Frankreich hingegen auf einen Dialog mit Russland. Was wirkt am besten?
Anders als es unmittelbar nach dem Giftanschlag auf Nawalny von der französischen Seite angedeutet wurde, hält Emanuel Macron nun doch am strategischen Dialog mit Russland fest. Auf seiner Baltikumsreise hat wieder einen Spagat vorgeführt: Er hat auf der einen Seite Loyalitätssicherung für die Ostseestaaten gegeben, die sich von Russland und Putin bedroht fühlen. Auf der anderen Seite will er weiter an einer "Architektur des Vertrauens und der Sicherheit" mit Putin arbeiten. Das spricht nicht dafür, dass Frankreich bereit ist, die Russland-Politik substantiell neu zu justieren.
Macron sagt, es sei eine Realität, dass ohne Russland in Europa kein Frieden geschaffen werden könne. Er vergisst dabei, dass Russland in zahlreichen internationalen Krisen und ungelösten Konflikten (Syrien, Ukraine) aggressiv auftritt und nicht Teil der Lösung, sondern des Problems, ja bisweilen die Ursache ist.
Und mir scheint, dass es eine spürbare und nachhaltige europäische Antwort, die sich nicht nur auf Sanktionen beschränkt, sondern die auch zu einem anderen Auftreten der EU in ihrem unmittelbaren Nachbarschaft führt, nicht leicht geben wird. Es braucht jedoch eine Neuformulierung einer Russlandpolitik auf europäischer Ebene und damit eine konkrete und deutliche Antwort auf diese heftigen Regelverstöße und auf dieses hochaggressive Verhalten Russlands.
Abschließend: Mit welchen Erwartungen gehen Sie an den EU-Sondergipfel heran?
Noch vor ein paar vor Wochen standen die Aufregung um den Nawalny Fall und eine heftige Debatte um Nord Stream 2 im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen Deutschland. Die ist nun kaum noch sichtbar. Ich bin eher skeptisch, ob sich die EU zu einer deutlichen Antwort gegenüber Russland durchringen kann.
Auch im Fall Belarus droht die EU wie in der Vergangenheit zu lange zu zögern. Nötig sind Signale gegenüber Moskau. Russische Szenarien laufen in Belarus bereits, z.B. in der von Moskauer Polittechnologen massiv mit beeinflussten Propaganda- und Informationspolitik, die die Opposition als westliche Marionetten diskreditieren soll. Deswegen wäre es jetzt wichtig, dass die EU Putin ein Preisschild vorhängt, damit dieser bei jedem seiner Schritte in Belarus entsprechende Kosten berücksichtigen muss. Ob hohe EU-Beamte tatsächlich an solchen Strategien basteln, ist fraglich. Ich bin eher skeptisch, dass es eine klare Antwort auf den Fall Nawalny und Belarus geben wird.
Vielen Dank für das Gespräch.
(adg)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 19. September 2020 | 18:00 Uhr