Konflikt an der Grenze Migranten: Gefangen zwischen Belarus und Polen?
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30. Dezember 2021, 13:21 Uhr
Die Lage bleibt angespannt: Immer wieder versuchen Migranten, von Belarus die Grenzsperren nach Polen zu überwinden und in die EU zu gelangen. Doch es ist unklar, wie die Situation für die Flüchtlinge dort ist – das Gebiet ist gesperrt. Reporter von MDR exakt waren mehrere Tage am Rande der Zone unterwegs und haben mit Aktivistinnen und Helfern gesprochen, die versuchen, die Menschen im Sperrgebiet zu versorgen.
Viele Bäume sind kahl, aus dem Feld davor ist das grün entwichen. Der November hat sein kaltes Gewand an der Grenze zwischen Polen und Belarus ausgebreitet. Obwohl die polnische Regierung das Gebiet rund um den Stacheldrahtzaun inzwischen abgeschottet hat, finden sich dort immer wieder Sachen, die von Migranten hinterlassen wurden. "Schaut selbst, solche Klamotten sind für die Kälte überhaupt nicht geeignet", sagt Alina Misczuk und leuchtet mit der Taschenlampe auf eine schwarze Jeans und einen dünnen Pullover.
Alina Micszuk aus dem polnischen Hajnowka (Woiwodschaft Podlachien) arbeitet beim örtlichen Roten Kreuz und darf sich nicht mehr als drei Kilometer der Grenze nähern. Weder Hilfsorganisationen noch Journalisten ist der Zutritt zur Sperrzone erlaubt. Auf polnischer Seite verläuft diese Sperrzone parallel zur polnisch-belarussischen Grenze, drei Kilometer breit und umfasst fast 200 Dörfer. Wie viele Migranten dort Ende November im kalten Wald umherirren, ist unbekannt. Außer den Sicherheitskräften dürfen nur Einwohner rein – Hilfsorganisationen und Journalisten nicht. Jedes ein- und ausfahrende Fahrzeug wird gründlich kontrolliert.
Seit Wochen stehen sich an der Grenze weißrussisches und polnisches Militär gegenüber, nachdem Belarus-Machthaber Alexander Lukaschenko Tausende Migranten in sein Land gelockt hatte – mit dem Versprechen, sie könnten von hier aus in die EU gelangen. Seit Polen seine Grenze abgeriegelt hat, waren mehr als 2.000 Menschen vor allem aus Syrien und dem Irak zwischen beiden Seiten eingeklemmt. Inzwischen hat Belarus sie in einer Lagerhalle an der Grenze untergebracht. Doch noch immer versuchen Migranten aus Belarus über die Grenze und in die EU zu gelangen. Wer es über den Stacheldraht schafft, landet in der polnischen Sperrzone – was dann mit ihnen passiert, ist oft unklar.
Hilferufe von Migranten in der Nacht
Meist erhält Alina Misczuk in der Nacht Hilferufe über die Notnummer des Roten Kreuzes – entweder von Einwohnern der Zone oder von Migranten selbst. In dem dichten Wald verlieren viele Migranten die Orientierung und werden dann manchmal in letzter Minute gerettet.
An einem Novemberabend meldet sich ein Aktivist bei MDR-Reportern und schickt ihnen einen GPS-Standort, der im Wald liegt – am Rand der Sperrzone des polnischen Militärs. Zwei Reporter von MDR exakt versuchen dorthin zu gelangen. Doch bereits einen Kilometer vor der Sperrzone werden sie von der Polizei aufgehalten und müssen umkehren.
Nach einem Marsch durch den Wald erreichen die Reporter dennoch den Standort. Dort wollen Aktivisten den kurdischen Journalisten Ohmed Kheder, der in seiner Heimat bedroht wird, an die Grenzpolizei übergeben. Es sind mehrere Vertreter der Presse anwesend. Das soll verhindern, dass Ohmed Kheder nach Belarus abgeschoben wird. "Ich habe mit vier Arabern die Grenze überquert, konnte dann aber nicht mit ihnen mitlaufen", sagt Ohmed Kheder. Seine Begleiter hätten ihn allein gelassen. Er habe Angst gehabt. "Es war sehr kalt und ich hatte nichts zu essen."
Schließlich kommt die Grenzpolizei. Ohmed Kheder übergibt ein Schreiben, in dem er um Asyl bittet. Anschließend werden die polnischen Journalisten und die Reporter von MDR exakt kontrolliert. Sie sollen sich angeblich in der Sperrzone befinden: Erst nach zwei Stunden Prüfung steht fest, dass der Vorwurf nicht stimmt.
Spenden aus Brandenburg an die polnische Grenze
Am nächsten Morgen ist beim Roten Kreuz im ostpolnischen Bialystok, ein LKW mit Spenden aus Brandenburg angekommen. "Wir haben genaue Listen", sagt Axel Grafmanns vom Verein "Wir packen's an", der die Ladung gebracht hat. Denn was die Helfer in Polen benötigten, seien Thermounterwäsche, gefütterte Stiefel oder Powerbanks. "Die haben wir halt gekauft oder organisiert."
Auch Ashraf aus Syrien musste nach mehreren Tagen im Wald wegen Erschöpfung ins Krankenhaus. Mittlerweile lebt er in einem Migrantenheim einer Hilfsorganisation in Bialystok. Seinen Freund, wie er Angehöriger der drusischen Minderheit, hatte die polnische Polizei mitgenommen. Per Handy-Nachricht hat er von ihm erfahren, dass er von Polen wieder nach Belarus abgeschoben worden sei – es wäre ein illegaler Pushback.
Ashraf sagt, dass er und sein Freund froh gewesen seien, aus Belarus weggekommen zu sein. Die belarussischen Soldaten seien erbarmungslos gewesen: "Sie haben uns nichts gegeben – kein Wasser, kein Essen, kein Dach über dem Kopf." Sie sollten im Wald bleiben und nachts über die Grenze nach Polen gehen. "Viele Leute haben gesagt: Wir wollen nicht nach Polen, sondern zurück nach Minsk, um wieder nach Hause zu fliegen." Doch die Soldaten hätten gesagt: Nein, bleibt einfach hier. Ashraf hätte nicht gedacht, dass der Weg in die EU so gefährlich ist.
Fast unmöglich von Polen in die Sperrzone zu gelangen
In die Sperrzone zu gelangen, ist für die MDR-Reporter fast unmöglich. Als sie es mehr oder weniger zufällig schaffen, werden sie von den Grenzschützern angehalten. Weil Journalisten dort keinen Zutritt haben, müssen sie Strafe zahlen und werden dann aus der Zone geleitet.
Trotzdem gibt es Leute vor Ort, die heimlich in die Zone gehen und Migranten versorgen. Milena, die eigentlich anders heißt, will nicht erkannt werden. Die regierungsnahen Medien machen Stimmung gegen Aktivisten, zunehmend würden sich Migranten im Wald vor jedem Fremden verstecken. "Sie haben möglicherweise Angst, sich uns zu nähern", sagt Milena. Manche könnten sie dennoch finden, aber viel weniger als im September und Oktober.
Doch warum haben sie Angst? "Wir wissen, dass Einheimische Migranten angegriffen haben", sagt Milena. Außerdem seien sehr, sehr viele Soldaten, Polizisten und Grenzschützer im Wald unterwegs, um die Migranten zu jagen. Auf der polnischen Seite der Grenze sei "ein rechtsfreier Raum". Sie fragt sich, wo die Menschlichkeit geblieben sei.
Viele Migranten landen mit schwerer Unterkühlung im Krankenhaus
Axel Grafmanns aus Brandenburg ist mit seinem LKW und dem Rest der Ladung Richtung Grenze in den Ort Hajnowka gefahren. Die MDR-Reporter konnten den Helfer nicht bis zum Ziel begeleiten: "Da sind polnische Aktivistinnen und polnische Anwohner, die sich hier für Geflüchtete einsetzen." Diese wollten nicht in der Presse erscheinen oder dass bekannt wird, wo ihr Haus steht. "Also die Angst vor Nachteilen, ist ja schon sehr groß."
Im Krankenhaus von Hajnowka sind auf jeder Etage Grenzpolizisten stationiert, damit Migranten, die hier behandelt werden, das Krankenhaus nicht verlassen können. Chefarzt Tomasz Musiuk und sein Team haben seit August mehr als 200 Migranten versorgt. Jetzt, in der kalten Jahreszeit, nehmen die schweren Fälle zu – oft litten die stationär aufgenommenen Menschen an Flüssigkeitsmangel und an Unterkühlung in weit fortgeschrittenem Zustand. "Aus diesen beiden Gründen haben sie Stoffwechselstörungen und brauchen dringend lebenserhaltende Maßnahmen."
Mehrere Migranten sind bereits im Grenzgebiet gestorben. Einige wurden auf einem muslimischen Friedhof der kleinen tartarischen Minderheit in Polen beerdigt. Wenn der Herbst vorüber ist, kommt der Winter mit noch größerer Kälte – und es ist mit weiteren Opfern zu rechnen.
Quelle: MDR exakt
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 08. Dezember 2021 | 20:15 Uhr