Russland HIV breitet sich aus
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24. Juli 2018, 00:01 Uhr
Russland hat ein massives HIV-Problem. Die jährlichen Zuwachsraten bei Neuinfektionen liegen bei zwölf Prozent. Besonders betroffen sind Menschen, die in Armut leben, sowie Drogenabhängige.
Zwar hat der Staat das Problem erkannt, doch tut er sich schwer damit, moderne und wirksame Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Stattdessen werden sexuelle Enthaltsamkeit und Treue gepredigt und NGOs als "ausländische Agenten" diffamiert.
Im Mai 2016 wurde in Russland eine landesweite Aktion unter dem Motto "Stopp HIV/AIDS" ausgerufen. Die Initiatorin war Swetlana Medwedewa, Ehefrau des russischen Premierministers Dmitri Medwedew. Unterstützt wurde sie unter anderem auch durch das russische Gesundheitsministerium. Neben einem online-flashmob mit Prominenten, die auf das Problem aufmerksam machten, sollte vor allem ein Studentenforum dazu beitragen, das Informationsniveau über HIV in der Bevölkerung und vor allem unter jungen Menschen zu heben.
Liebe und Treue als Waffe gegen HIV
"Gemeinsam AIDS stoppen!", steht ganz oben auf der Seite der Initiative. Direkt darunter die nüchternen und harten Fakten: "Die Bevölkerung Russlands beträgt 146 Millionen Menschen. Von ihnen leben mehr als 900.000 mit HIV. Jede Stunde gibt es zehn Neuansteckungen." Andere offizielle Stellen dagegen sprechen von 1,2 Millionen HIV-Infizierten im Jahr 2017.
Die Aktion zeigt, dass es auf staatlicher Ebene durchaus ein Bewusstsein für das Problem gibt. Umgerechnet 600 Millionen Dollar will das Gesundheitsministerium im Jahr 2018 für den Kampf gegen HIV ausgeben. Gleichzeitig offenbart sich jedoch auch die größte Unzulänglichkeit dieser Offensive: Ihre Hauptwaffe gegen HIV – laut einer Losungsliste auf der Seite – ist Liebe und Treue! Das hob auch ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche hervor, als er auf dem Studentenforum vor Publikum sagte: "Ich möchte euch helfen, diese gefährliche Krankheit zu vermeiden. Deswegen möchte ich euch daran erinnern, dass es außer dem Körper, über dessen Gesundheit wir gerade reden, auch noch die Seele gibt. Wenn die Seele schwach ist, wird der Körper, der nach Vergnügen strebt, sich diese unterwerfen."
Ungenügende Präventionsmaßnahmen
Ein Aspekt, den auch Anton Krasovsky hervorhebt. Er ist Journalist, Leiter der privaten Moskauer Stiftung "AIDS-Zentrum" und kämpft schon seit Jahren für einen anderen Umgang des Staats mit dem Problem HIV. Besonders große Defizite sieht Krasovsky in den staatlichen Präventionsmaßnahmen: "Die weltweit einzigartige Besonderheit der offiziellen russischen Medizin besteht tatsächlich darin, dass diese gegen den Einsatz von Drogenersatztherapien ist. Es gibt natürlich viele Länder, in denen es diese Therapien nicht gibt, aber dort ist es die Exekutive, die dagegen ist, bei uns aber ist es das Gesundheitsministerium."
Dabei wären genau dies Maßnahmen, die die epidemieartige Ausbreitung des Virus eindämmen könnten. Denn nach Krasovsky ist das Problem in Russland vor allem darauf zurückzuführen, dass Menschen in wirtschaftlich schwachen Regionen keine Zukunftsperspektiven sehen und drogenabhängig werden. Vor allem Heroin spielt dabei eine große Rolle. Durch Mehrfachnutzung von Spritzen verbreitet sich die Krankheit zunächst innerhalb der Abhängigen und greift dann, vor allem über ungeschützten Geschlechtsverkehr, auch auf Bevölkerungsgruppen über, die mit Drogen nichts zu tun haben.
Die meisten HIV-Infizierten sind drogenabhängig
Statistiken bestätigen dieses Phänomen. Während etwa in den USA, wo die Krankheit Anfang der 1980er Jahre entdeckt wurde, zwei Drittel aller Betroffenen männlich und homosexuell sind, stellt diese Gruppe in Russland lediglich einen minimalen Prozentsatz dar. Etwa 53 Prozent der HIV-Infizierten kommen dagegen aus dem Drogenmilieu; 43 Prozent der HIV-Infizierten sind Heterosexuelle. Metadonersatztherapien sowie die Verteilung von Spritzen und Kondomen haben sich weltweit bewährt. Die russische Politik und insbesondere die einflussreiche russisch-orthodoxe Kirche lehnen vor allem die Verteilung von Kondomen ab. Sie befürchten, dass die Moral der Bevölkerung Schaden nehmen könnte.
Helfer als "ausländische Agenten" diffamiert
Das zeigt sich in einer Reihe aktueller Entscheidungen gegenüber NGOs, die sich dem Kampf gegen HIV verschrieben haben. Diese werden, sofern sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" diskreditiert und so in ihrer Arbeit behindert.
Ein konkretes Beispiel stellt "Panakeia" dar. Diese NGO war seit 2013 in der Stadt Kusnezk im Gebiet Pensa aktiv. Laut Gesundheitsexperten ist gerade dort die HIV-Situation besonders kritisch. Während im gesamten Gebiet auf 100.000 Einwohner 179 Infizierte kommen, sind es in Kusnezk 442. "Panakeia" erhielt finanzielle Zuwendungen von einer anderen Organisation, die von der EU finanziert wurde. Mit diesem Geld kaufte die NGO Spritzen und Kondome, die sie unter den Betroffenen verteilen ließ. Zunächst gab es dafür auch lobende Worte von Seiten der Leitung der Gebietsverwaltung. Doch im Juli 2016 änderte sich die Situation. Der Staatsanwalt wendete sich an das Gericht mit der Forderung, die NGO als "ausländische Agentenring" anzuerkennen. "Panakeia“ würde mit Hilfe ausländischer Finanzierung Maßnahmen durchführen, die den Interessen Russlands widersprächen.
In seiner Begründung schrieb der Staatsanwalt, dass die Verteilung von Spritzen und Kondomen nicht nur nicht mit den Behörden abgestimmt sei, sondern auch der staatlichen Politik im Bereich Drogen- und AIDS-Prävention widersprechen würde: "Also ist es kein humanitäres, sondern ein ideologisches und sogar politisches Projekt." Da half es auch wenig, dass Ärzte warnten, sollte "Panakeia" ihre Tätigkeit in Kusnezk einstellen, könnte das eine Katastrophe bedeuten. Dennoch wurde sie auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt und hat sich daraufhin aufgelöst.
Gestörtes Vertrauensverhältnis
Dabei können als "ausländische Agenten" gebrandmarkte Organisationen ihre Tätigkeit durchaus fortführen. Sie stehen lediglich unter besonderer Beobachtung der Behörden. Damit aber werden sie auf subtile Weise kriminalisiert und stoßen in der aktuell politisch aufgeladenen Situation auf das Misstrauen der Menschen. Eine der wesentlichen Grundlagen ihrer Arbeit aber ist Vertrauen - dass sich HIV-Infizierte, die jeglichen Kontakt mit Behörden und offiziellen Stellen meiden, hilfesuchend an sie wenden.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 23. Juli 2018 | 10:55 Uhr