Wie Ungarn Obdachlose kriminalisiert
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10. Dezember 2018, 09:37 Uhr
In Ungarn ist das Leben auf der Straße seit Oktober illegal. Wer von der Polizei erwischt wird, dem droht Haft. Was das für die Betroffenen bedeutet, hat Piroska Bakos in einem Budapester Obdachlosenheim herausgefunden.
Kurz nach der Öffnung um 18.30 Uhr gibt es keine freien Betten mehr in der Nachtunterkunft für Obdachlose im 8. Budapester Bezirk. 46 Menschen können in der Unterkunft der Stiftung "Menhely" (Asyl) unterkommen. Durch den frostigen Winterbeginn ist der Andrang aber besonders groß und die Sozialarbeiter haben noch ein paar zusätzliche Matratzen bereitgelegt.
52 Männer drängen sich an diesem Abend dicht an dicht, einige sehen fern. Hier im kleinen Gesellschaftszimmer bekommen sie auch etwas zu Essen, etwa Weißbrot mit Aufschnitt. Andere lesen Zeitungen auf dem Bett. Die grünen Gummi-Matratzen und Decken sind stark abgenutzt. Manche bringen deswegen eine eigene Decke mit, andere decken sich mit einem Wintermantel zu. Das liege an der großen Fluktuation, erzählt mir der Direktor der Stiftung, Zoltán Aknai: "Deswegen gibt es keine Bettwäsche, das ständige Waschen kann unsere Stiftung nicht leisten."
Haftstrafen für Obdachlosigkeit
Die "Menhely" ist eine der größten Organisationen für die Obdachlosen-Versorgung in Ungarn. Sie wird zum Großteil von der Stadt Budapest und dem Staat finanziert. "Menhely" unterhält neben den Nachtunterkünften auch Wärmestuben, einen Notruftelefondienst, einen "Krisenwagen" für Notfälle und gibt die einzige Obdachlosenzeitung Ungarns heraus. Die Sozialarbeiter der Stiftung verteilen auch Essen oder Kleidung an die Obdachlosen im Bezirk und versuchen die zu überreden, in die Unterkünfte zu kommen.
Das ist mittlerweile eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Denn seit dem 15. Oktober 2018 ist das Leben auf der Straße in Ungarn per Gesetz verboten. Werden Obdachlose von der Polizei aufgegriffen, spricht diese eine Verwarnung aus. Nach drei Verwarnungen innerhalb von 90 Tagen landet der Betroffene vor einem Richter. Der kann bis zu sechs Monate Haft oder Arbeit in staatlichen Programmen verordnen.
Kaum Zulauf durch schärfere Gesetze
Schätzungen zufolge sind in Ungarn mindestens 20.000 Menschen obdachlos. "Menhely"-Direktor Zoltán Aknai meint, es könnte auch über 30.000 Menschen geben, die auf der Straße leben. "Es gibt manche, die nur temporär obdachlos sind oder doch irgendwo schlafen können. Tagsüber halten sie sich aber in den Wärmestuben auf. Deswegen ist es schwer, eine genaue Zahl zu benennen", sagt Zoltán Aknai.
Dem stehen 11.000 staatliche Notunterkunftsplätze gegenüber. "Ich glaube auch nicht, dass wegen des Gesetzes signifikant mehr Leute in die Unterkünfte kommen. Es gibt Menschen, die nicht her wollen, weil sie die strikten Regeln, etwa das Alkoholverbot, nicht einhalten können oder wollen. Die werden sich jetzt verstecken und verschwinden so auch aus den Augen der Sozialarbeiter", erklärt der "Menhely"-Direktor.
Zunehmende Stigmatisierung von Obdachlosigkeit
Zoltán Aknai meint, dass Kriminalisierung der Obdachlosigkeit ganz sicher keine angemessene Lösung sei: "Diese Menschen haben von vornherein Schuldgefühle, weil sie aus verschiedensten Gründen auf der Straße gelandet sind. Mit diesem Gesetz werden sie jetzt auch staatlich für schuldig erklärt. Das führt aber nirgendwohin." Deshalb brauche es nach seiner Überzeugung mehr Unterkünfte.
Diese sollten aber spezialisiert sein, fügt der "Menhely"-Direktor hinzu: "Ich denke an spezielle Einrichtungen für psychisch Kranke oder Alkoholiker oder Therapien für Drogensüchtige. In denen sollte es Einbett- oder maximal Zweibettzimmer geben, auch Zimmer für Paare wären gut. Das ist meiner Meinung nach der Schlüssel: für individuelle Probleme individuelle Lösungen finden."
Obdachlosigkeit durch Vorbeugung verhindern
In der Notunterkunft sind inzwischen etliche Männer schlafen gegangen. Ich komme mit István ins Gespräch, der aber nicht fotografiert werden will. In den vergangenen Jahren konnte er mit seiner Freundin noch eine bescheidene Wohnung mieten. Aber dann hat er seine Arbeit verloren und landete auf der Straße.
"Das Gesetz ist ein Blödsinn. Die Regierung soll uns allen dann bitte Wohnmöglichkeiten anbieten. Allein in diesem Bezirk gibt es zig leerstehende Mietshäuser. Warum kann die Stadtverwaltung diese nicht zur Verfügung stellen?", fragt István empört, während er seinen Tee austrinkt.
Direktor Aknai stimmt ihm zu. "Wir brauchen eine umfassende Strategie, um die Obdachlosigkeit von vornherein zu vermeiden. Wir brauchen soziale Mietwohnungen. Wir brauchen Wohnungsbeihilfen. Wir brauchen Umschulungsprogramme, um aus veralteten Berufen wechseln zu können. Wir brauchen Änderungen im Gesundheitssystem, um zum Beispiel psychisch kranke Menschen entsprechend versorgen zu können."
Regierung: "Wir wollen diese Menschen nicht bestrafen"
Die Regierung steht weiterhin zu den neuen Regeln: "Es ist nicht die Lösung, dass die Leute Sonderrechte bekommen und auf den Straßen leben dürfen. Damit lassen wir sie im Stich. Diese Menschen brauchen keine Sonderrechte, sondern besondere Hilfe, die der Staat leisten wird.", betont Bence Rétvári, Staatssekretär im Gesundheitsministerium.
Laut Medienberichten lässt die ungarische Regierung in der Tat ein spezielles Programm für Obdachlosen ausarbeiten. Das soll auf den Rückkehr in den Arbeitsmarkt vorbereiten. Vor Gericht mussten derweil bislang bereits neun Obdachlose verantworten. Jedoch wurden dort alle nur verwarnt. In Haft kam bislang niemand.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch in: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 02.12.2018 | 19:00 Uhr