Die 'Ndrangheta ist eine der mächtigsten kriminellen Vereinigungen weltweit. Ihr jährlicher Umsatz wird auf rund 53 Milliarden Euro geschätzt. Ihren Ursprung nahm die Mafia-Organisation in der süditalienischen Region Kalabrien. Mit dem Kapital, das sie in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem durch Entführungen erwirtschaften, stiegen 'Ndrangheta-Clans ins Drogengeschäft ein - vor allem mit Kokain. Derzeit hat die 'Ndrangheta das Monopol über den europäischen Kokainhandel. In Deutschland sieht sie das Bundeskriminalamt als "dominierende Mafiagruppierung". Laut Einschätzung italienischer Ermittler hat sie in Deutschland ähnliche Strukturen aufgebaut wie in ihrer Heimat.
Seit 1995 existiert eine Zelle der 'Ndrangheta in Erfurt. Gastro-Unternehmer zogen damals von Duisburg in die thüringische Landeshauptstadt, wo sie als Finanzverwalter der kriminellen Vereinigung agierten. Oststädte wie Erfurt hatten nach der Wiedervereinigung einen besonderen Reiz: es gab weder Privatkapital, noch Aufmerksamkeit für kriminelle Phänomene wie die Mafia. Außerdem hieß die Region Investoren sehr willkommen. In diesem Gebiet mit klarer Machtlücke wussten die Mitglieder genau, was zu tun war. Beim italienischen Mafia-Forscher Nando Dalla Chiesa von der Uni Mailand hat sich der Begriff "Erfurter Modell" zu einem feststehenden Begriff etabliert. Er steht für eine erfolgreiche Unterwanderung einer Stadt durch die Mafia.
Die 'Ndrangheta investierte insgesamt viel Geld in den neuen Bundesländern. Ermittler vermuten, dass ihre Mitglieder die Privatisierungswelle der 90er-Jahren nutzten, um Drogengeld durch legale Investitionen zu waschen. Zwischen 1996 und 2006 öffneten der kriminellen Vereinigung nahestehende Gastro-Unternehmer in Erfurt etwa sieben Lokale und gründeten mehrere Unternehmen. Zwei dieser Unternehmer sind seit mehr als 20 Jahren der deutschen und italienischen Polizei bekannt. Von der Justiz wurden sie nicht weiter behelligt. Die "Erfurter Gruppe" agiert aus dem Verborgenen heraus, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Gerät sie dennoch in den Fokus von Ermittlern oder Öffentlichkeit, geht sie selbst den Weg über die Justiz. Kurz gesagt: Die italienische Mafia schießt nicht mehr, sondern sie klagt.
2007 rückte Erfurt erstmals ins Rampenlicht: Im August wurden sechs Männer aus Kalabrien vor einem Restaurant in Duisburg umgebracht. Das Restaurant gehörte früher einem prominenten Mitglied der "Erfurter Gruppe". Gleich nach dem Mord rief laut Medienberichten ein Mitglied der 'Ndrangheta in Erfurt an. Er wurde von der italienischen Polizei abgehört. Ein Zusammenhang zwischen dem sechsfachen Mord und der "Erfurter Gruppe" ließ sich jedoch nicht herstellen. Sowohl für die italienische Anti-Mafia-Behörde DIA als auch das BKA ist Erfurt nicht mehr Ruhezone, wie oft behauptet, sondern ein Operationsraum.
Das Bundeskriminalamt und die italienische Anti-Mafiabehörde DIA gehen davon aus, dass die "Erfurter Gruppe" Geldwäsche-Operationen organisiert. Die Organisation agiert von Erfurt aus deutschlandweit in Leipzig, Dresden, Weimar, Eisenach, Kassel, München oder Baden-Baden. Aber auch in Rom und Lissabon hat sie ihre Stützpunkte. Ihr harter Kern umfasst knapp ein Dutzend Männer. Sie alle stammen aus den 'Ndrangheta-Hochburgen San Luca, Locri oder Bovalino. Ermittler schätzen, dass 20 Unternehmen und 30 Restaurant von Erfurt aus gesteuert werden.
Mindestens 100 Millionen Euro soll die Mafia von Erfurt aus investiert haben. MDR-Recherchen ergaben, dass die Vereinigung zuletzt mit Geld aus Erfurt mehrere renommierte Restaurants in Rom übernahm. Von Immobilien im Wert von 20 Millionen Euro ist die Rede - bezahlt mit in Deutschland gewaschenem Drogengeld. Das Geld wurde offenbar über San Marino nach Italien transferiert. Aufgrund der italienischen Mafia-Gesetze nimmt die 'Ndrangheta den Umweg über Deutschland: In Italien müssten die neuen Eigentümer nachweisen, woher das Geld zum Kauf stammt. Jetzt können sie auf ihre Geschäfte in Erfurt verweisen - und die italienischen Behörden müssen das glauben.
Aufsehen erregten gemeinsame Recherchen des MDR und der FAZ zur sogenannten FIDO-Operation. Anfang 2021 deckten die Journalisten auf, dass das Bundeskriminalamt und Thüringer Landeskriminalamt vor 20 Jahren einen verdeckten Ermittler in eine Gruppe der kalabrischen 'Ndrangheta in Erfurt eingeschleust hatte. Offenbar aufgrund von Behördenstreitigkeiten und Kompetenzgerangel wurde die Quelle überraschend aus dem Einsatz wieder abgezogen. In der Folge sollen alle verdeckten Operationen eingestellt und das Verfahren Stück für Stück beendet worden sein. Damals beteiligte Fahnder kritisierten, dass es keinen sachlichen Grund gegeben habe, das Verfahren einzustellen. Nach den Recherchen wurde ein Untersuchungsausschuss im Landtag eingerichtet, der die damaligen Ereignisse untersuchen soll.