Bildung Rechtsextremismus an Schulen: Werden Hass und Hetze zur neuen Normalität?
Hauptinhalt
18. Mai 2024, 10:51 Uhr
Andreas W.* hat lange überlegt, ob er mit den Medien sprechen soll. Der Lehrer einer Berufsschule in Thüringen möchte unerkannt bleiben, wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen. Zu heikel ist das Thema aktuell, das viele von ihnen umtreibt und besonders mit dem Erstarken der AfD im Freistaat zugenommen habe: Alltagsrassismus, rechtsextreme und rechtspopulistische Äußerungen in Schulen, Lehrerinnen und Lehrer als politische Zielscheibe. An Thüringer Schulen schon lange keine Ausnahmen mehr.
Inhalt des Artikels:
Aktuelle Nachrichten des Mitteldeutschen Rundfunks finden Sie jederzeit bei mdr.de und in der MDR Aktuell-App.
Laut einer Umfrage des Thüringer Lehrerverbands (TLV) im Frühjahr 2024 gaben 40 Prozent der mehr als 200 teilnehmenden Lehrkräfte an, mitbekommen zu haben, dass Kolleginnen und Kollegen sowie Schülerinnen und Schülern Gewalt an der Schule erlebt haben, die rechtsextremistisch motiviert war. "Da geht es vor allem um menschenverachtende Äußerungen und Witze, die in diesem Bereich fallen. Das wurde früher in dieser Form nicht geäußert", schildert Andreas W.* seine Erfahrungen aus dem Schulalltag. Das bestätigen auch andere Kollegen und Kollegen, mit denen MDR Investigativ gesprochen hat. Öffentlich äußern möchten sie sich alle nicht, zum Teil aus Angst davor, was sie als Lehrkraft sagen dürfen, aber auch vor den Auswirkungen auf ihren Schulalltag.
"Die Schülerinnen und Schüler rufen sich 'Du Jude' zu, äußern sich diskriminierend über Kinder aus anderen Herkunftsländern", berichtet eine Regelschullehrerin aus Ostthüringen. Zuletzt habe ein Schüler ganz offen einen Hitlergruß gezeigt und sei nur wenig davon beeindruckt gewesen, dass die Polizei ihn daraufhin abholte. Auch die Eltern habe das nicht interessiert, erzählt die Lehrerin.
Verschiedene Ursachen für zunehmenden Rechtsextremismus
Das gibt auch die Umfrage des TLV wieder. 143 Teilnehmer gaben an, dass für sie Feindbilder aus dem Elternhaus die Ursache für den zunehmenden Rechtsextremismus an Schulen sind. 125 sehen zusätzlich die Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik als einen Grund dafür. Auch die Popularität der als rechtsextrem eingestuften AfD sei laut Umfrage schuld daran, dass es mehr rassistische Beleidigungen gibt. Aber auch die Corona-Pandemie sei ein Grund, sagt Andreas W.. Eingängige Grußformeln, Hakenkreuze an Wänden und auf Schultischen, Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft beleidigt und angegriffen werden - all das schildern die Teilnehmer der TLV-Umfrage aus ihrem Schulalltag.
Die allgemeine Lage bezüglich des Rechtsextremismus beeinflusst das Schulleben. Ich würde das nicht auf einzelne Personen beschränken, sondern als allgemeinen Konflikt von vielen bezeichnen.
"Ich leiste nahezu täglich politische Aufklärungsarbeit", berichtet eine Gymnasiallehrerin aus dem Saale-Orla-Kreis MDR Investigativ. Rassistisches Vokabular, von dem nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch deren Eltern Gebrauch machen, der Klimawandel, der geleugnet wird - all das mache ihr große Sorgen. "Das treibt mich einfach um und ich fühle mich so ohnmächtig", schildert sie.
Bildungsministerium verschickt Schreiben an Schulen
Im Zuge der anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen, aber auch im Nachgang der Einstufung des Thüringer Landesverbandes der AfD als erwiesen rechtsextremistisch, hat das Bildungsministerium erst im März wieder ein Schreiben an alle Schulen verschickt. Darin wurden alle Lehrkräfte sowie Mitarbeitenden des Geschäftsbereiches über die Einstufung der Partei informiert und auf ihre Pflichten hingewiesen.
In dem Schreiben, das MDR Investigativ vorliegt, heißt es, dass staatliche Behörden und damit auch Schulen die Wahrung einer parteipolitischen Neutralität obliegt. Es gebe aber kein "Mäßigungsgebot" in Bezug auf Rechtsextremismus, stattdessen verlange der Bildungsauftrag eine klare Positionierung gegen Diskriminierung und gegen die Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus.
"Unvereinbar mit dem Bildungsauftrag sind zudem jegliche Form von Antisemitismus, Rassismus, Religionsfeindlichkeit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hass. Wenn demokratische Grundprinzipien etwa durch gesichert rechtsextreme Positionen infrage gestellt werden, muss diesen konsequent entgegengetreten werden", so Winfried Speitkamp, Staatssekretär im Thüringer Bildungsministerium.
Lehrkräfte haben politischen Bildungsauftrag
Auch wenn die Auslegungen dazu relativ klar sind, so sind sich viele Lehrerinnen und Lehrer unsicher, inwieweit sie sich politisch in der Schule äußern und welche Haltung sie annehmen dürfen. "Dabei ist es genau ihr Auftrag, nämlich Schülerinnen und Schüler zu befähigen, politische Prozesse einzuschätzen. Und das heißt dann einfach nur, dass eine Lehrkraft über alle politischen Parteien informieren muss und den Konflikt aufzeigen muss, ohne zu sagen: Ihr müsst die oder jene Partei wählen. Das verstehen Lehrkräfte oftmals falsch und verstecken sich hinter dem vermeintlichen Neutralitätsgebot", berichtet Kathrin Vitzthum, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen.
Man muss sich darauf vorbereiten, dass die AfD auch tatsächlich Einfluss nimmt auf Schule und andere Bildungseinrichtungen.
Die GEW hat zusammen mit dem Verfassungsblock Thüringen den Workshop "Resiliente Schulen zur Landtagswahl" ins Leben gerufen. Dabei sollen Lehrkräfte darüber sprechen, welche Möglichkeiten es gibt, sich zu wehren, sollte die AfD in Thüringen tatsächlich in eine Regierungsverantwortung kommen und dazu noch das Bildungsministerium übernehmen.
Zum Aufklappen: Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein?
Bereits 1976 wurde im "Beutelsbacher Konsens" formuliert, wie Lehrerinnen und Lehrer politische Haltungen im Unterricht umsetzen können. Der "Beutelsbacher Konsens" enthält drei wichtige Grundsätze für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Schule:
1. Überwältigungsverbot. Das heißt, Schülerinnen und Schüler dürfen nicht mit politischen Meinungen überrumpelt werden.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
3. Die Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, politische Situationen und eigene Interessenlagen zu analysieren.
Bis heute gelten diese Grundsätze als richtungsweisend für die pädagogische Arbeit.
Kündigungen angedroht, sollte die AfD in Thüringen regieren
"Wir haben in Thüringen in diesem Jahr herausfordernde Landtagswahlen. Die AfD scheint stärkste Kraft zu werden und wie sich der Landtag zusammensetzt, ist im Moment noch sehr vage. Man muss sich darauf vorbereiten, dass die AfD auch tatsächlich Einfluss nimmt auf Schule und andere Bildungseinrichtungen", fasst Vitzthum die Hintergründe zusammen. Fünf Workshops gibt es zu dem Thema, drei sind bereits ausgebucht, in zweien gibt es nur noch wenig Restplätze.
So hätten viele Lehrkräfte Angst vor einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Sie überlegten, ihren Arbeitsvertrag zu kündigen und Thüringen zu verlassen, weil sie unter einer AfD-Regierung keine Bildungsarbeit mehr leisten möchten. "Insofern ist es für uns wichtig, diese Lehrkräfte zu stärken und zu sensibilisieren dafür, dass sie doch noch einige Möglichkeiten der Hand haben, das Schulleben zu gestalten - im Sinne von Demokratie und Freiheit", sagt die GEW-Vorsitzende.
Lehrerin soll im Unterricht persönlich rechtsextreme Äußerungen getätigt haben
Dass nicht jede Lehrkraft in diesem Sinne handelt, sondern mitunter Kinder und Jugendliche beeinflusst, dass diese sich eben keine eigene Meinung im Sinne einer politischen Bildung machen können, zeigt ein Beispiel von einem Leipziger Gymnasium. Hier unterrichtet Silke M.*, die immer wieder im Unterricht persönliche politisch rechtsextreme und menschenverachtende Äußerungen getätigt haben soll. Das belegen Gedächtnisprotokolle von Schülern, die MDR Investigativ vorliegen.
"Deutschland gehe den Bach runter, SPD, Grüne und FDP können kein ABC", soll Frau M. unter anderem geäußert haben, erinnert sich Schüler Florian S.*. Auch Aussagen, wie "wenn in Deutschland die ersten Bomben fallen würden, dann lache sie, denn das habe sie immer gesagt", soll Frau M. im Unterricht getätigt haben. Er habe es dumm gefunden und ihr nicht mehr zuhören wollen, sagt Florian S.. Ein Mitschüler erinnert sich an dieselben Aussagen.
Mehrere Schüler und ihre Eltern meldeten die Vorfälle der Schulleitung, die den Fall nach Informationen von MDR Investigativ an das Landesschulamt Sachsen weitergeleitet haben soll. Die Behörde soll Frau M. daraufhin eine Rüge erteilt haben. Auch auf ihrem privaten Facebook-Account teilt Silke M. ganz offen einsehbar regierungsfeindliche, rassistische und menschenverachtende Posts, einer davon versehen mit einem Code der rechtsextremen Verschwörungsbewegung Qanon.
Lehrerin lässt Anwältin antworten
Auf mehrfache Bitte von MDR Investigativ um eine persönliche Stellungnahme zu ihren Äußerungen im Unterricht und der erteilten Rüge hat die Gymnasiallehrerin nicht geantwortet. Stattdessen teilt die Anwältin des Sächsischen Lehrerverbands MDR investigativ im Auftrag von Silke M. mit: "In der Sache selbst verfügen Sie gegebenen Falles über falsche bzw. unzutreffende Informationen." Auf nochmalige Nachfrage äußerte sich der Sächsische Lehrerverband bis zum Redaktionsschluss nicht.
Auf Anfrage von MDR Investigativ verweist die Schulleitung an das sächsische Amt für Schule und Bildung. Dort antwortet die Pressestelle, jeder Beschäftigte im öffentlichen Dienst müsse sich (..) durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen. Zu dem angefragten Fall könne man aber aus Gründen des Personenschutzes keine Aussagen machen. "Des Weiteren handelt es sich um ein laufendes Verfahren, was uns ebenfalls veranlasst, keine weiteren Aussagen zu tätigen", heißt es aus der Pressestelle. Trotzdem unterrichtete Frau M. nach Informationen von MDR Investigativ noch monatelang weiter. Mittlerweile soll sie vom Unterricht freigestellt worden sein.
Vorfälle werden vom Bildungsministerium erfasst - wenn sie gemeldet werden
Rechtsextreme Äußerungen und Vorfälle an Schulen werden im Thüringer Bildungsministerium als "Besondere Vorkommnisse" (BV) erfasst - vorausgesetzt, Schulen melden den Fall. Ob ein solches Ereignis als BV eingestuft wird, schätzen zunächst die Schulleitungen sowie das staatliche Schulamt ein, so das Thüringer Bildungsministerium. Die Dunkelziffer dürfte also letztendlich viel höher sein als die Zahl der BV-Meldungen im Ministerium.
Andreas W., die Regelschullehrerin aus Ostthüringen und die Gymnasiallehrerin aus dem Saale-Orla-Kreis werden weiterhin aufklären: Schülerinnen und Schüler, deren Eltern, aber auch Kolleginnen und Kollegen. "Ich würde mir wünschen, dass viel mehr Lehrkräfte mutig genug sind, um unsere Demokratie zu verteidigen und zu stärken. Sollte es im September einen politischen Wechsel geben, dann bin ich raus aus dem Schuldienst", ist die Gymnasiallehrerin überzeugt.
*Name geändert
MDR (jn)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 17. Mai 2024 | 19:00 Uhr