Zeitgeschichte Bestseller-Buch über Jenaer Stasi-Opfer Domaschk ausgezeichnet
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14. Juni 2024, 14:27 Uhr
Der Journalist Peter Wensierski erzählt in seinem Buch "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" die letzten Lebenstage des gleichnamigen Stasi-Opfers. Dafür ist Wensierski jetzt ausgezeichnet worden.
Stasi-Untersuchungsgefängnis Gera, April 1981. Nach stundenlangen Verhören wartet ein junger Mann auf seine Entlassung. Es ist Matthias Domaschk aus Jena, der zwei Tage zuvor aus dem Zug heraus verhaftet worden war. Die Stasi verdächtigt ihn, im Umfeld des X. Parteitages der SED in Berlin eine Störaktion zu planen.
Schon mehrere Jahre lang ist Domaschk unter Beobachtung, gilt dem MfS als Staatsfeind, weil er sich etwa an Protesten gegen die Ausbürgerung des Sängers und Dichters Wolf Biermanns 1976 beteiligt hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass Domaschk verhört wird, aber dieses Mal bauen die Vernehmer einen großen Druck auf. Denn sie glauben, ihn mit Vorhaltungen und Strafandrohungen zum Spitzel pressen zu können, um auf diese Weise mehr zu erfahren über die oppositionellen Jugendlichen in Jena und Thüringen.
Der 23-jährige ist offenbar erschöpft und zermürbt, er unterschreibt eine handschriftliche Verpflichtungserklärung. Am frühen Nachmittag des 12. April wird er im Besucherraum des Stasi-Gefängnisses tot aufgefunden, angeblich hat er sich mit seinem Hemd am Heizungsrohr aufgehängt.
Die ungeklärten Umstände dieses Todesfalles schockieren damals - und bewegen bis heute. Zuletzt hat der Autor Peter Wensierski das 360 Seiten starke Buch "Jena-Paradies" über "Die letzte Reise des Matthias Domaschk" - so der Untertitel - geschrieben, es ist ein Bestseller geworden.
Wie funktionierte Diktatur - wie könnte sie wieder funktionieren?
Peter Wensierski ist dafür am Donnerstag mit dem Karl-Wilhelm-Fricke-Preis der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur ausgezeichnet worden. Die Preisverleihung in Berlin am 13. Juni bot Gelegenheit, sich die Thüringer Bezüge vor Augen zu führen. Im Saal anwesend die Preisträgerin des vergangenen Jahres, Doris Liebermann. Sie hatte in Jena studiert und gehörte zu denen, die 1976 nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR Proteste organisierte – eine Initialzündung auch für die Politisierung des damals 19-jährigen Matthias Domaschk.
Es gibt keine Pflicht, sich mit Vergangenheit zu beschäftigen, aber es gibt eine Chance, seine Sinne zu schärfen für Gegenwart und Zukunft
Liebermann wurde 1977 zusammen mit der "staatsfeindlichen Gruppierung" um den Jenaer Studenten und Dichter Jürgen Fuchs in die Bundesrepublik abgeschoben - ihre Bücher und Radiodokumentationen geben intensive Einblicke auf das Lebensgefühl von unangepassten Jugendlichen in der DDR.
Auch Roland Jahn war anwesend, der ehemalige Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Auch er gehörte zum Umfeld von Matthias Domaschk in Jena, überliefert ist etwa, dass er gemeinsam mit Freunden zum ersten Jahrestag 1982 in einer geheimen Plakataktion mit einer Traueranzeige auf die ungeklärten Todesumstände hinwies. Roland Jahn fotografierte auch, wie im Auftrag der Stasi eine Gedenk-Plastik, die Freunde am Grab errichtet hatten, demontiert und abtransportiert wurde.
Gedenken verhindern, unbequeme Fragen unterdrücken - das sind zwei Wesenszüge von totalitären Systemen. Was sie so erfolgreich macht: Sie korrespondieren mit ganz menschlichen Eigenschaften, mit dem Hang zum Vergessen und zum Verdrängen. Angesprochen darauf sagt Roland Jahn am Rand der Preisverleihung: "Es gibt keine Pflicht, sich mit Vergangenheit zu beschäftigen, aber es gibt eine Chance, seine Sinne zu schärfen für Gegenwart und Zukunft".
Ein Kreis schließt sich
Der Karl-Wilhelm-Fricke-Preis ist benannt nach dem 1929 in Hoym im heutigen Sachsen-Anhalt geborenen Journalisten. Mitte der 1950er Jahre wurde Fricke aus Westberlin heraus von der Stasi verschleppt und wegen "Kriegs- und Boykotthetze" zu vier Jahren Haft verurteilt, die er im berüchtigten Gefängnis Bautzen II in Einzelhaft verbüßte. Seine große Bedeutung für den Blick auf die DDR erlangte Fricke, weil er wissenschaftlich und als Redakteur für den Deutschlandfunk jahrzehntelang über Repression in der DDR publizierte und mit enormer Sachkenntnis präzise beschrieb und analysierte.
Peter Wensierski überraschte bei seiner Dankesrede mit einem Manuskript, das er aus seinem Archiv mitgebracht hatte: Sein erster Beitrag über die kirchliche Friedensbewegung in der DDR, den er Anfang der 1980er Jahre für Karl-Wilhelm Fricke beim Deutschlandfunk realisiert hatte. Schon damals war Wensierski als einer der wenigen West-Korrespondenten in der DDR unterwegs, und zwar ganz bewusst jenseits der offiziell verordneten und staatlich kontrollierten Pfade.
Seine Reisen und Begegnungen auch in Thüringen sind - neben den Recherchen in den Archiven - die Basis für die Güte und den Erfolg seiner Bücher: "Jeder Journalist ist eigentlich nur so gut oder so schlecht wie die Leute, mit denen er zusammenarbeiten kann, die Informanten vor allen Dingen. Ich hätte all die vielen Bücher und Artikel nicht schreiben können aus mir selbst heraus im stillen Kämmerlein. Nein, das war ja schon zu DDR-Zeiten so, dass es auch dort jede Menge mutiger Informanten gab. Und die möchte ich auch mit dem Preis gewürdigt wissen."
MDR (nir)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 14. Juni 2024 | 07:15 Uhr
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