Euthanasie Totgeschwiegene NS-Geschichte: Forschungsprojekt zu vergessenen Orten der Verbrechen in Thüringen
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19. März 2023, 12:40 Uhr
Die Nazis betitelten sie als "moralisch schwachsinnig", nannten sie lebensunwert. Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten wurden während des NS-Regimes systematisch ermordet oder zwangssterilisiert. Ein Thema, über das heute immer noch lieber geschwiegen als gesprochen wird - so Experten. Auch über die Thüringer Täterorte von damals ist meist wenig bekannt. Das will ein neues Forschungsprojekt der Uni Jena jetzt ändern.
Die Polizeiwache in Weimar. Das Gebäude von außen unscheinbar, beigefarben und an der Hauptstraße gelegen. Das Schild Polizei prangt am Eingang. Heute werden dort Verbrechen aufgeklärt, doch zwischen 1934 und 1945 fanden genau diese in dem ehemaligen Stadtkrankenhaus statt. Mehr als 1.000 Menschen, Einwohner von Weimar und KZ-Häftlinge aus Buchenwald wurden dort zwangssterilisiert. Heute erinnert an diesem Ort nichts mehr an die Verbrechen von damals.
Auch nicht am einstigen Landesamt für Rassewesen in Weimar. Dort sitzt heute die Bauhaus-Uni, gleich neben der Mensa. Auch am ehemaligen Gesundheitsamt des Stadtkreises Weimar, mitten in der Innenstadt und heute eine Pension, erinnert nichts daran, welche Verbrechen hier zur NS-Zeit stattgefunden haben. Sowohl im damaligen Landesamt für Rassewesen und im einstigen Gesundheitsamt wurde die NS-Ideologie der Rassehygiene gefördert und umgesetzt.
In ganz Thüringen sind 16.000 Zwangssterilisationen bekannt. In den Heilanstalten, wie etwa in Stadtroda, Mühlhausen und Hildburghausen fand die Ermordung von psychisch Kranken, Menschen mit Behinderung und sozial Ausgegrenzten statt.
Neue Forschungsgruppe an der Uni Jena
Es sind vergessene Täterorte aus der NS-Zeit in Thüringen. Viele sind bereits bekannt, viele von ihnen nicht. Es sind Orte, von denen heute kaum jemand weiß, was für Gräueltaten die Nazis einst an Menschen verübt haben. Eine Forschungsgruppe der Friedrich-Schiller-Universität Jena will jetzt solche vergessenen Täterorte im Freistaat wieder sichtbar machen.
"Hunderttausende Menschen sind den NS-Eugenik-Verbrechen im Deutschen Reich und auch in den besetzten Gebieten zum Opfer gefallen. Menschen mit körperlich-seelischen geistigen Beeinträchtigungen wurden als lebensunwert erfasst und systematisch ermordet", schildert Dr. Karl Porges, Projektleiter der Forschungsgruppe "Beredtes Schweigen - NS Eugenik-Verbrechen und ihr Folgen" die Situation vor etwa 90 Jahren.
Menschen als "moralischer Schwachsinn" bezeichnet
Während der NS-Zeit sollen bis zu 400.000 Personen zwangssterilisiert worden sein, heißt es vom Lernort Weimar e.V., einem Kooperationspartner des Projekts. Den "Euthanasie"-Aktionen der Nazis, die 1939 begannen, sind schätzungsweise mindestens 300.000 Menschen im Deutschen Reich mit den eroberten Gebieten im Osten und in Österreich zum Opfer gefallen.
"Dabei wurde der Personenkreis mit der Zeit immer mehr erweitert: Von Säuglingen und Kleinkindern mit schweren Behinderungen über Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen und psychischen Krankheiten bis hin zu nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen", weiß Steffi von dem Fange vom Lernort Weimar e.V.. Als "moralischen Schwachsinn" bezeichneten Nazis diese Menschen, die dann sogar zwangssterilisiert worden sind, damit sie sich nicht fortpflanzen konnten.
Wir haben festgestellt, dass diese Geschichte bis heute noch nicht thematisiert wird oder auch bewusst totgeschwiegen wird.
Seit Monaten wälzt Steffi von dem Fange nun schon Patientenakten aus verschiedenen ehemaligen Heilanstalten in Thüringen und stößt dabei immer wieder auf verstörende Biographien. "Da war ein Junge, der ist kerngesund da reingekommen, aufgefallen wegen Diebstahl und weil sein Vater in Buchenwald gelandet war. Die ganze Familie war quasi auffällig. Der Junge ist dann einfach ein halbes Jahr später gestorben, und das ist eher unwahrscheinlich, dass das ein natürlicher Tod war, mit 16 Jahren", berichtet die Projektmitarbeiterin aus einer Akte.
Vielseitige Umsetzung des Themas
Zwei Jahre lang dauern die Forschungsarbeiten, die im Rahmen der Bildungsagenda 2023 vom Bundesfinanzministerium und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft gefördert wird. Am Ende soll mit verschiedenen Projektpartnern neben einer Graphic Novel (eine Art Comic im Buchformat) auch ein Theaterstück entstehen, das den Leidensweg einiger ausgewählter Opfer erzählt. Die Orte des Geschehens sollen mit Lichtinstallationen sichtbar gemacht werden, auch neue Unterrichtsmaterialien sind in Planung.
"Wir haben festgestellt, dass diese Geschichte bis heute noch nicht thematisiert wird oder auch bewusst totgeschwiegen wird", sagt Karl Porges. Ziel sei es, die Lebens- und Leidenswege der Menschen von damals in den öffentlichen Raum zu heben, "auch vor dem Hintergrund, dass eben so etwas nie wieder passiert".
MDR (jml/sar)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 19. März 2023 | 19:00 Uhr