Datenanalyse Von "Rassisten" und "Salafisten": Wie Thüringer Parteien über Extremismus reden
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20. August 2024, 11:27 Uhr
Ein Fünftel aller Thüringer vertritt rechtsextreme Einstellungen. Gleichzeitig sitzt mit der AfD ein rechtsextremer Landesverband im Parlament. Wie wird dort über Extremismus gesprochen und gestritten?
Als Anfang des Jahres in ganz Deutschland mehr als eine Million Menschen auf die Straßen gingen, zeigte das eindrucksvoll, was viele umtrieb: die Sorge vor grassierendem Rechtsextremismus. Knapp 40 Prozent der Befragten gaben im ARD-Deutschlandtrend Anfang Februar an, Rechtsextremismus und -populismus als größte Gefahren für die Demokratie zu sehen.
Aus Thüringen kennt man andere, aber auch sehr deutliche Zahlen: Dem offiziellen Thüringen-Monitor zufolge haben 19 Prozent der Menschen im Freistaat (Stand 2023) rechtsextreme Einstellungen. Den hohen Wert führen Expertinnen und Experten vor allem auf den Anstieg bei fremdenfeindlichen Einstellungen zurück: Fast 60 Prozent der Befragten hatten zugestimmt, dass die Bundesrepublik "durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet" sei. Gleichzeitig hätten viele Krisen wie Ukraine-Krieg, Inflation oder die Sorge um die Wirtschaft dazu geführt, dass die Zufriedenheit vieler Menschen gesunken ist.
Aufklappen: Wie stark sind die unterschiedlichen Extremismus-Formen in Thüringen vertreten?
Nach wie vor stellt der Rechtsextremismus für den Thüringer Verfassungsschutz den Bearbeitungsschwerpunkt dar. Auch weil die Extremisten immer öfter "gezielt Anschluss an bürgerliche Protestanliegen" suchten. Für 2022 hatte die Behörde beispielsweise ein Personenpotenzial von 2.400 Menschen gezählt. Auch bei den "Reichsbürgern" beobachtete die Behörde zuletzt einen deutlichen Zuwachs. Mit Blick auf Islamismus in Thüringen notierte der Verfassungsschutz: Islamistische Gruppierungen haben sich in Thüringen bislang kaum strukturell etabliert. Das Potenzial der losen Anhängerschaft beläuft sich im Freistaat auf insgesamt 178 Islamisten. Zum linksextremistischen Personenpotenzial zählt der Verfassungsschutz für 2022 etwa 400 Personen.
Quelle: Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2022
Um einen besseren Überblick über die vergangenen fünf Thüringer Parlamentsjahre zu bekommen, hat der MDR die Plenarprotokolle des Landtags ausgewertet. Welche Begriffe nutzen die Abgeordneten selbst? Auch jene der AfD, deren Landesverband in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird? Und mit welchen Zuschreibungen versuchen die Fraktionen, Extremismus einzuordnen?
Wie der MDR die Landtagsreden ausgewertet hat
- Der Thüringer Landtag stellt alle Sitzungsprotokolle als PDF-Dateien zur Verfügung. Diese Protokolle lassen sich zunächst in HTML-Dateien umwandeln und dann mit Hilfe sogenannter "Scraping"-Programmierverfahren in einen Datensatz überführen, in dem jeder Wortbeitrag einem Politiker oder einer Politikerin und der zugehörigen Partei zugeordnet ist.
- Dieser Datensatz enthält mehr als 9.000 Redebeiträge von Thüringer Abgeordneten aus der aktuellen Legislaturperiode. Die "Süddeutsche Zeitung" hat ihn zusammengestellt und ihn dem MDR im Gegenzug für einen anderen Datensatz zur Verfügung gestellt.
So oft sprechen die Fraktionen über Extremismus
MDR Data hat untersucht, wie häufig in den Plenardebatten Worte wie extremistisch, rechtsextrem, Linksextremismus, islamistisch, Rassismus, radikal oder antisemitisch gefallen sind – also all jene Begriffe, die zu diesem Themenfeld gehören.
Linke-Abgeordnete haben diese Worte 523 Mal in ihren Landtagsreden verwendet und damit häufiger als Abgeordnete der anderen Parteien. Wichtig hierbei: Die Redezeit der Fraktionen im Landtag bemisst sich in etwa danach, wie stark die Partei bei der letzten Landtagswahl abgeschnitten hat. Es ist also wenig überraschend, dass die Linke vorne liegt.
Auffallend ist jedoch, dass die AfD deutlich seltener über Extremismus spricht als die CDU, obwohl sie fast genauso viele Abgeordnete stellt. Und das, obwohl die Thüringer AfD – gerade auf Social Media – in den vergangenen Jahren nicht müde wurde, vor der von Islamisten ausgehenden Gefahr zu warnen.
Deutlich wird auch, dass Extremismus für die Grünen ein wichtiges Themenfeld ist. Obwohl sie mit fünf Abgeordneten drei weniger stellt als die SPD, tauchen die Schlüsselbegriffe in ihren Reden fast doppelt so häufig auf.
So sprechen die Fraktionen über Extremismus
Über sich selbst redet die AfD nicht gerne – so könnte man die untenstehende Wortwolke deuten. Sie zeigt, welche Begriffe die Fraktionen verwenden, wenn sie über Extremismus in all seinen Formen sprechen. Während CDU, FDP, Grüne und SPD immer wieder über Rechtsextremismus oder Rechtsradikalismus debattieren, sprechen die Abgeordneten der vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Landespartei lieber über Linksextremismus. Oder – um die Corona-Politik der Landes- und Bundesregierung zu kritisieren – über Corona-Extremismus.
Aufklappen: Was bedeutet rechtsextrem?
Rechtsextreme vertreten einen aggressiven Nationalismus, der Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit abwertet und das eigene Volk überhöht. Ferner lehnen sie die freiheitliche demokratische Grundordnung, ihre Institutionen und deren Repräsentanten ab. Stattdessen schwebt ihnen eine gesellschaftliche Neuordnung nach dem Führerprinzip vor, bei dem die Freiheit des Einzelnen durch das Kollektiv beliebig eingeschränkt werden kann. Zur Durchsetzung dieser Vorstellungen sind Rechtsextreme zu Gewalt bereit oder nehmen diese billigend in Kauf.
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung/MDR
Für die Abgeordneten der Linke spielt der Antisemitismus eine vergleichsweise wichtige Rolle. Dem Thüringen-Monitor zufolge ist er weit verbreitet: Demnach gibt es einen Zustimmungswert von 40 Prozent beim sogenannten sekundären Antisemitismus, der auf eine Verharmlosung der NS-Verbrechen abzielt.
So wird Extremismus sprachlich eingeordnet
Um noch besser zu verstehen, wie sich die Abgeordneten zu Extremismus äußern, hilft ein Blick auf den Kontext: Wie ordnen die Fraktionen Extremismus inhaltlich und sprachlich ein? Dafür wurde untersucht, welche Begriffe in den Reden auffallend häufig vor oder nach den Extremismus-Schlüsselwörtern vorkommen.
Die unten abgebildeten Begriffe erscheinen bei der jeweiligen Fraktion also immer wieder im direkten Umfeld von Worten wie linksextrem, Rassismus, radikal oder Rechtsextremismus. Die Begriffe sind nach ihrer Aussagekraft gefiltert.
Die Abgeordneten der Linksfraktion werfen der AfD Hetze vor und sprechen über Neonazis, die rassistische Positionen verbreiten. Die Grünen warnen wiederholt vor der Zunahme von Straftaten mit rechten Motiven. Und die CDU – insbesondere der Abgeordnete Raymond Walk – spricht gerne über diverse extremistische Szenen wie die Reichsbürger- oder Salafisten-Szene.
Gewarnt wird auch von der AfD – jedoch viel mehr vor linksextremistischen Straftaten. Wiederholt bemüht die Fraktion den Fall der verurteilten Lina E. und ihren Komplizen, die AfD-Landeschef Höcke auch gerne mal als "Hammerbande" bezeichnet und damit auf deren Angriffe auf Neonazis in Mitteldeutschland verweist. Die SPD hingegen warnt vor ideologischem Gedankengut wie jenem von Höcke und die FDP vor Extremisten und Antisemiten jeglicher Couleur.
Hinweis
Wenn Sie möchten, können Sie sich auch direkt ein Bild von den Reden der Abgeordneten und Ministerinnen und Minister machen. Der Landtag bietet dafür eine umfassende Suchfunktion im Netz an.
In den Analysen kurz vor der Landtagswahl hat sich MDR Data auch damit beschäftigt, wie sich die Spitzenkandidaten der Parteien in den vergangenen fünf Jahren geäußert haben. Oder auch damit, welche Begriffe die Abgeordneten beim Streitthema Windkraft benutzen. Diese Recherchen finden Sie hier:
MDR (dst)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 20. August 2024 | 18:00 Uhr