Datenanalyse Thüringen vor der Wahl: Die Lautsprecher und Hinterbänkler im Landtag
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20. August 2024, 16:18 Uhr
In der Herzkammer des Thüringer Landtags geht es hoch her. MDR Data hat alle Sitzungsprotokolle der nun ablaufenden Legislaturperiode ausgewertet. Die Analyse zeigt, welche Fraktionen wie viel Redeanteil haben, welche Politiker besonders häufig am Rednerpult stehen und wer bei Debatten lieber auf den Hinterbänken bleibt. Unter den Lautsprechern im Landtag ist auch ein ehemaliger Ministerpräsident.
Am 5. Februar 2020 schreibt der Thüringer Landtag Geschichte. 90 Abgeordnete sitzen im Plenum, 45 davon wählen Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten: seine Fraktionskollegen von der FDP, dazu die Abgeordneten von CDU und AfD. Kemmerich nimmt die Wahl an, wird vereidigt, schreitet einige Zeit später zum Rednerpult und sagt: "Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um Thüringen. Die Arbeit beginnt jetzt." Bevor er weiterreden kann, ruft Anja Müller von den Linken dazwischen: "Mit Nazis!"
Ständig unterbrechen die Abgeordneten Kemmerichs erste Rede als Ministerpräsident. Er bedankt sich bei seinem Vorgänger Bodo Ramelow, aber der Linke-Abgeordnete André Blechschmidt fällt ihm ins Wort: "Er muss bis 18 Uhr sein Zimmer räumen, wie Sie es angewiesen haben! Heuchler in Reinkultur!" Kemmerich distanziert sich von jeglichen Extremisten, woraufhin Dirk Adams von den Grünen ruft: "Sie haben sie heute eingerissen, die Brandmauer zu den Faschisten!"
Es bleibt Kemmerichs einzige Rede als Ministerpräsident im Thüringer Landtag. In der folgenden Sitzung vier Wochen später löst Ramelow (Linke) ihn wieder ab. Nachlesen lässt sich all das in den Protokollen der Sitzungen.
Die Szene zeigt, dass es im Thüringer Landtag keineswegs langweilig zugeht. 141 Mal sind die Abgeordneten in den vergangenen fünf Jahren zusammengekommen: Sie haben über Windräder diskutiert, die ihnen zufolge entweder bitter nötig sind oder aber Thüringen verschandeln. Sie haben sich über Corona-Maßnahmen und über Gendersprache gestritten. Viele dieser Diskussionen verraten etwas über das Menschenbild der Beteiligten und über die politische Kultur in Thüringen. MDR Data hat alle Protokolle der aktuellen Legislaturperiode deshalb mit textanalytischen Methoden ausgewertet.
Wie der MDR die Landtagsreden ausgewertet hat
- Der Thüringer Landtag stellt alle Sitzungsprotokolle als PDF-Dateien zur Verfügung. Diese Protokolle lassen sich mittels sogenannter "Scraping"-Methoden in einen Datensatz überführen, in dem jeder Wortbeitrag einem Politiker oder einer Politikerin und der zugehörigen Partei zugeordnet ist.
- Dieser Datensatz enthält mehr als 9.000 Redebeiträge von Thüringer Abgeordneten aus der aktuellen Legislaturperiode. Die "Süddeutsche Zeitung" hat ihn zusammengestellt und dem MDR im Gegenzug für einen anderen Datensatz zur Verfügung gestellt.
- Von der Analyse ausgeschlossen sind Beiträge von Gästen; von Ministerinnen oder Ministern, die keine Abgeordneten sind; und Beiträge und Beiträge der Landtagspräsidentin Birgit Pommer sowie ihrer Stellvertreter, die aufgrund ihrer Rolle eine stärker moderierende Sprache verwenden.
Dieser Artikel bietet einen Überblick über die Redeanteile der Fraktionen und der Gruppe der FDP und zeigt, welche Abgeordneten im Landtag besonders häufig oder besonders selten zu hören sind. Weitere Analysen beschreiben, wie die Parteien auf die Themen Windkraft und Extremismus blicken und mit welchem Vokabular sie um die politische Deutungshoheit kämpfen. Ein weiterer Artikel zeigt, was die Landtagsreden über die Spitzenkandidaten verraten.
Der tiefe Blick in den Landtag zeigt, dass das Herz der Thüringer Demokratie lebendig ist und munter schlägt.
1. Welche Fraktionen wie viel Redeanteil haben
Redezeit ist Macht. Wer mehr davon hat, kann seine Positionen besser untermauern. Und weil die Macht in einer Demokratie grundsätzlich vom Volk ausgeht, orientiert sich die Redezeit der Fraktionen an ihrem Abschneiden bei der vergangenen Wahl. Den größten Redeanteil haben deshalb die Abgeordneten der Linken, sie stehen etwa ein Viertel der Zeit am Rednerpult.
Es folgt die CDU mit rund einem Fünftel des Redeanteils, danach die AfD mit rund einem Sechstel.
SPD, Grüne und FDP stellen zusammen gerade einmal etwa 20 Prozent aller Abgeordneten, kommen aber auf rund 40 Prozent des Redeanteils: Jede Fraktion erhält pro Tagesordnungspunkt eine Redezeit von fünf Minuten, hinzu kommen zehn Sekunden pro Abgeordnetem. Bei der Linken-Fraktion entspricht das rund zehn Minuten, bei den Grünen knapp sechs Minuten. Die FDP erreicht mit nur vier Abgeordneten keinen Fraktionsstatus, erhält als Gruppe aber ebenfalls fünf Minuten Redezeit.
Kleinere Parteien kommen im Thüringer Landtag also häufiger zu Wort, als es ihrer Fraktionsgröße entspricht.
2. Die Lautsprecher: Welche Abgeordneten die meisten Reden schwingen
Welche Fraktionsmitglieder ans Rednerpult schreiten, ist den Fraktionen selbst überlassen. Da manche Abgeordneten besonders häufig zu Wort kommen und andere lieber auf den Hinterbänken bleiben, gibt es ein enormes Ungleichgewicht zwischen den Abgeordneten.
Mit deutlichem Abstand am aktivsten sind drei Männer von der FDP: Robert-Martin Montag, Dirk Bergner und Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich. Sie kommen in der aktuellen Legislaturperiode auf jeweils mehr als 300 Redebeiträge mit mindestens 30 Worten. Bei den Grünen steht Madeleine Henfling häufig am Mikrofon, bei der CDU Raymond Walk, bei der AfD Nadine Hoffmann, bei den Linken André Blechschmidt und bei der SPD der kürzlich verstorbene Thomas Hartung.
Für den Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz ist es wenig überraschend, dass die FDP die Abgeordneten mit den meisten Rede-Minuten stellt. Die FDP stelle die kleinste Gruppe im Landtag, sodass "sich die Themen in der FDP-Fraktion auf weniger Personen verteilen als bei den größeren Fraktionen. So müssen die einfach öfter ran".
Der Frauenanteil im Landtag beträgt 33,3 Prozent, im Vergleich mit anderen Bundesländern liegt Thüringen damit im Durchschnitt. Unter den zehn Abgeordneten mit den meisten Redebeiträgen sind sechs Frauen. Ihr Anteil an den Lautsprechern im Landtag ist also besonders groß.
3. Die Leisetreter: Welche Abgeordneten lieber auf den Hinterbänken bleiben
Unter den Abgeordneten mit den wenigsten Redebeiträgen sind einige, die nur einen Teil der Legislaturperiode im Landtag verbracht haben. Anja Siegesmund und Heike Taubert legten beispielsweise ihre Mandate nieder, nachdem sie ins Kabinett berufen worden waren.
Manche Abgeordnete saßen aber den größten Teil der Legislaturperiode im Landtag und waren trotzdem kaum am Rednerpult zu sehen. Dazu zählen zum Beispiel Thomas Gröger (AfD), Karl-Heinz Frosch (AfD/fraktionslos) und die CDU-Politiker Michael Heym und Mike Mohring.
Lässt weniger Redezeit auf Faulheit schließen?
Den Abgeordneten mit weniger Reden Faulheit zu unterstellen, wäre Politikwissenschaftler Brodocz zufolge aber nicht angemessen. "Wer für politische Themen zuständig ist, die öfter auf der Agenda stehen als andere, kommt womöglich auch öfter zu Wort", so Brodocz. Sprich: Abgeordnete, die beispielsweise für Wirtschafts- oder Migrationsthemen zuständig sind, sprechen vermutlich häufiger als diejenigen, die sich viel mit Medien oder Kultur beschäftigen. Und, so Brodocz: "Darüber hinaus ist das Talent zur Rede auch ungleich verteilt, sodass Fraktionen sicher auch gern die Talentierteren öfter nach vorn schicken."
Hinweis
Wenn Sie möchten, können Sie sich auch direkt ein Bild von den Reden der Abgeordneten und Ministerinnen und Minister machen. Der Landtag bietet dafür eine umfassende Suchfunktion im Netz an.
In den Analysen kurz vor der Landtagswahl hat sich MDR Data auch damit beschäftigt, wie sich die Spitzenkandidaten der Parteien in den vergangenen fünf Jahren geäußert haben. Oder auch damit, welche Begriffe die Abgeordneten bei den Streitthemen Windkraft und Extremismus benutzen. Diese Recherchen finden Sie hier:
MDR (dst/dwue)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 20. August 2024 | 18:00 Uhr
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