Polizeiarbeit Bodycams "aus" zum Schutz von Beamten? Der blinde Fleck bei möglicher Polizei-Gewalt
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12. November 2022, 17:00 Uhr
Seit Mitte August ermittelt die Polizeidirektion Recklinghausen (NRW) gegen Kollegen aus Dortmund wegen ihrer tödlichen Schüsse auf einen 16-jährigen Senegalesen. Aufnahmen aus den Bodycams der Beamten können nicht ausgewertet werden, denn diese blieben allesamt ausgeschaltet. In Thüringen kommt künftig eine Holster-Nachrüstung zum Einsatz, die beim Ziehen der Dienstwaffe automatisch die Bodycam startet. Das Innenministerium in Sachsen hingegen lehnt diese Technologie strikt ab.
In den USA sind Bodycams auf Druck von Bürgerrechtsorganisationen flächendeckend eingeführt worden. Das Ziel: vor allem Angehörige nichtweißer Minderheiten vor vielfach auch tödlicher Polizeigewalt zu schützen. In Deutschland hingegen wurden Bodycams eingeführt, um die Polizei vor Gewalt zu schützen. Wann und ob die Kameras überhaupt eingeschaltet werden, liegt hierzulande im Ermessen der Beamten.
Was sind Bodycams?
Bodycams sind kleine Kameras, die an den Uniformen von Polizistinnen und Polizisten befestigt sind.
Zunächst muss ich sagen, dass der Schutz von Einsatzkräften an sich ein völlig nachvollziehbares Anliegen ist. Aber ein echter Wirknachweis, dass das mit Bodycams erreicht wird, fehlt. (…) Trotz offener Fragen ist eine Entscheidung gefallen: Bodycams werden eingesetzt. Die Frage ist jetzt, wie man sie möglichst vernünftig nutzt, also mit einem Sicherheits-Plus für alle – eben auch als Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor einem unangemessenen, vorschnellen oder zu brutalen Eingreifen.
"Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte" ist großzügig definiert
Für die Pilottests der Bundesländer zur Einführung der Bodycam wurden Gewalttaten zunächst gegen Beamte ohne und später jene mit Bodycams miteinander verglichen. Teilweise wurden aber entgegen den Erwartungen bei Einsätzen mit Bodycams steigende Zahlen bei den erfassten Gewalttaten festgestellt.
Eine der Schwächen dieser Studien könnte in der Definition dessen liegen, was die Polizei als Gewalt gegen sich selbst zählt: Dazu gehört vor allem der sogenannte "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte". Erfasst werden damit Situationen, in denen sich Menschen gegen eine Maßnahme sperren, ohne Beamte zu attackieren, zum Beispiel durch Festhalten an einer Laterne, Einhaken beim Nachbarn oder Festkleben am Asphalt, während eine "Sitzdemo" geräumt wird. Polizeibeamte, die so einen Widerstand beispielsweise mit körperlicher Gewalt brechen und anzeigen, werden statistisch als Opfer einer Gewalttat erfasst.
Der Kriminologe Prof. Dr. Thomas Feltes sieht das kritisch. Im Gespräch mit MDR SACHSEN sagte er: "Der Begriff 'Gewalt gegen Polizeibeamte' wird leider viel zu weit gefasst. Darunter fällt auch verbale Gewalt oder das passive Sperren gegen polizeiliche Maßnahmen." Es gebe Situationen, in denen die Kamera abschreckend wirkt – aber das seien Ausnahmen. "Meist sieht es anders aus: viel Dynamik, viel Erregung und oft provokantes Verhalten von Polizisten. Und da 'wirkt' keine Bodycam."
Es gibt Situationen, in denen die Kamera abschreckend wirkt – aber das sind Ausnahmefälle.
Ein Bodycam-"Selbstauslöser" für den Dienstwaffengebrauch
Die Entscheidung darüber, ob sie ihre Bodycams einschalten sollten oder nicht, hätte den Beamten bei ihrem tödlichen Einsatz in Dortmund ein kleines Zusatzmodul für das von ihnen verwendete Bodycam-Modell abnehmen können. Der Anbieter von Technologielösungen für die Strafverfolgung, Axon Enterprise, und auch Hersteller der ebenfalls in einigen Bundesländern von der Polizei verwendeten Elektroschockpistole "Taser", bewirbt diesen "Selbstauslöser" für deutsche Sicherheitsbehörden als "eine einfache Holster-Nachrüstung, die das Ziehen der Waffe nicht beeinflusst. Es hilft Beamten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren". Sobald Polizisten ihre Schusswaffen zögen, beginne die Axon-Kamera in der Nähe mit der Aufzeichnung.
Zwei Wochen vor den nicht per Bodycam dokumentierten, tödlichen Schüssen in Dortmund hatte die Rot-Rot-Grüne Minderheitsregierung in Thüringen mit Zustimmung der CDU die Einführung einer solchen, technischen Lösung durch eine entsprechende Änderung des Polizeiaufgabengesetzes verabschiedet.
Sachsens Innenministerium lehnt automatisierte Aufzeichnung ab
Vom CDU-geführten, sächsischen Innenministerium wollte die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Kerstin Köditz, wissen, ob die automatisierte Aufzeichnung beim Ziehen der Dienstwaffe in Sachsen auch denkbar wäre. Auf ihre Kleine Anfrage antwortete das Innenministerium: "In der sächsischen Polizei ist der Einsatz von Bodycams im Sinne der Fragestellungen nicht vorgesehen. Ferner kann mitgeteilt werden, dass das Beschaffungsvorhaben 'Bodycam' auf den Erkenntnissen des Pilotprojektes aufbaute. In dessen Rahmen wurden keine Forderungen bzw. Bedarfe im Sinne der Fragestellungen bekannt. (…) Auch sind keine Erprobungen im Sinne der Fragestellungen geplant."
Linken-Politikerin Köditz überrascht diese Ablehnung nicht. Wohl aber, dass der potenzielle Nutzen für die Polizeibeamten womöglich gar nicht bekannt ist, mit dem auch der Hersteller und Lieferant der Bodycams für die sächsische Polizei für eine automatisierte Aufzeichnung beim Ziehen der Dienstwaffe wirbt. "Gerade dann, wenn es stressig, hektisch oder aggressiv wird, ist das Aktivieren der Kamera ein Arbeitsschritt, den man vielleicht vergisst oder überspringt", meint Köditz. "Dahinter muss nicht einmal eine böse Absicht liegen. Dabei wären gerade in schwierigen Konfliktsituationen die Aufnahmen besonders nützlich, um hinterher klären zu können, wie sich der Einsatz entwickelt hat."
Köditz sieht keinen plausiblen Grund, warum man diese technische Möglichkeit nicht nutzt. Sie vermutet: "Der Bedarf wurde im Pilotprojekt nicht festgestellt, weil man dieser Frage gar nicht erst nachgegangen ist."
Überträgt Einschaltimpuls ungeschützt sensible Daten?
Als weiteren Grund, eine Einführung oder auch nur die Erprobung eines solchen Bodycam-Zusatzmoduls abzulehnen, nennt das Innenministerium Sicherheitsbedenken: "Des Weiteren sind Luftschnittstellen (z. B. Bluetooth) für die Datenübertragung der Polizei Sachsen, im Sinne der IT-Datensicherheit, grundsätzlich nicht zu verwenden."
MDR SACHSEN hat beim Deutschlandchef des Herstellers sowohl der Bodycam als auch des Zusatzmoduls nachgefragt, ob die Bedenken nachvollziehbar sein könnten. Geschäftsführer Christian Scherf verweist auf den unbedenklichen "Inhalt" einer solchen Datenübertragung: "Aus technischer Sicht sprechen wir bei der Axon Signal Technologie von einem Bluetooth Beacon, das von einem Zusatzgerät (Axon Signal Sidearm) ausgesendet wird und von den Axon Bodycams empfangen werden kann. Technisch ist nur der Start der Aufnahme bei einer Axon Body 2 Kamera durch dieses Signal möglich. Eine Übertragung von Bild- oder Tondaten findet nicht statt. Das Ereignis (Auslösung durch Schusswaffe) wird dann im internen Log-Protokoll der Geräte erfasst."
Mit anderen Worten: Diese aus Sicht des sächsischen Innenministeriums "grundsätzlich nicht zu verwendende Luftschnittstelle" funktioniert laut Scherf ähnlich wie ein Funkschlüssel beispielsweise für ein Einsatzauto der Polizei. Bei der Zentralverriegelung wird nicht mehr übertragen als das Signal "öffnen", bei der Bodycam lediglich der Impuls "einschalten".
Kriminologe zu Bodycams in Deutschland
MDR SACHSEN hat mit dem Juristen und Kriminologen Thomas Feltes über die Möglichkeiten der Bodycam zum Schutz vor Polizeigewalt gesprochen. Darin erklärt der Experte, warum der Einsatz der Bodycams hierzulande für ihn ein "fauler Kompromiss" ist und ob die automatische Aktivierung beim Ziehen der Dienstwaffe tödliche Einsätze womöglich verhindern könnte. Lesen Sie das Interview hier:
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 09. November 2022 | 19:00 Uhr