Zeitschrift "Neue Rundschau" Literatur: Wer darf über die DDR schreiben – und wie?
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14. November 2024, 11:21 Uhr
"Diktatur und Utopie – wie erzählen wir die DDR?" lautet der Titel der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Neue Rundschau", in der sich unter anderem Ingo Schulze, Dirk Oschmann, Ines Geipel und Uwe Kolbe Gedanken darüber machen, wie die DDR ihr Leben und Schreiben geprägt hat – und immer noch prägt. Die "Neue Rundschau" zählt mit ihrer 125-jährigen Geschichte zu den ältesten europäischen Kulturzeitschriften.
- Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß hat die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift "Neue Rundschau" herausgegeben.
- Darin schreiben Autoren wie Julia Schoch, Dirk Oschmann oder Ilko-Sascha Kowalczuk über ihre Perspektiven auf die DDR-Geschichte.
- Die "Neue Rundschau" zählt zu den ältesten Kulturzeitschriften Europas.
Die Schriftstellerin Charlotte Gneuß ist die Herausgeberin der Literaturzeitschrift "Neue Rundschau". 2023 erregte sie viel Aufmerksamkeit mit ihrem Roman "Gittersee". Nicht nur weil dieses literarische Debüt von der Kritik als besonders gelungen bewertet wurde, sondern auch, weil sich am Beispiel dieses Romans eine Debatte darüber entspann, wer eigentlich über die DDR schreiben darf.
Denn "Gittersee" spielt in der DDR, in den 1970er-Jahren – die Gneuß, selbst Jahrgang 1992, gar nicht erlebt hat. Außerdem ist sie im Westen Deutschlands aufgewachsen, immerhin mit Eltern, die in der DDR sozialisiert wurden.
In ihrem Editorial zur "Neuen Rundschau" schreibt Gneuß deshalb unter anderem, dass man sich 35 Jahre nach dem Mauerfall an einem Punkt in der Geschichte befinde, an dem die DDR historisch würde. Kommunikatives Wissen gehe in kulturelle Gedächtniskammern über, sagt sie, eine Generation von Nachgeborenen sei erwachsen geworden und beginne, ihr politisches und soziales Erbe mitzugestalten, worüber wiederum Diskurse entstünden. "Erinnerung ist fragil und geschriebene Geschichte ist ein Provisorium", hebt Gneuß hervor.
Erinnerung ist fragil und geschriebene Geschichte ist ein Provisorium.
Hoheit über die Vergangenheit
Den Ausführungen der Herausgeberin folgt ein Dutzend kluger und wohlformulierter Beiträge. Die Schriftstellerin Julia Schoch zum Beispiel hat ihren Text mit den so schönen wie passenden Worten überschrieben: "Einige ungeordnete, mitunter widersprüchliche Gedanken zur Frage: Wer darf wie über die Vergangenheit schreiben?"
Ungeordnet sind ihre Gedanken dann aber keineswegs, sondern durchnummeriert von eins bis zwölf. Mal reicht Schoch ein einziger Satz, mal wird es etwas ausführlicher. So schreibt sie unter Punkt zehn, dass sie von jeher vom Unterschied zwischen Wirklichkeit und Erinnerung fasziniert gewesen sei, "von Gegenwart und der Zeit, wenn es vorbei ist und nur noch die Erzählung existiert." Sie selbst springe oft schon im Moment des Erlebens zu dem Augenblick, an dem sich die Erinnerungen an ihn sortiert haben werden, woraus sich vielleicht sogar das Hauptthema ihrer Bücher bündeln lässt: das Verfließen von Zeit sichtbar zu machen.
Die Zeitschrift "Neue Rundschau" Die Literaturzeitschrift "Neue Rundschau" zählt zu den ältesten Kulturzeitschriften Europas. 1890 erschien die erste Ausgabe, zunächst unter dem Titel "Freie Bühne". Seit 1904 trägt sie den Titel "Die neue Rundschau". Sie ist traditionell eng an den S. Fischer Verlag gebunden, wo sie auch heute noch erscheint. Verlagsschriftsteller wie Thomas Mann, Robert Musil oder Robert Walser haben hier veröffentlicht. In der Zeit des Nationalsozialismus erschien sie bis 1944 und wurde nach einem Veröffentlichungsverbot gleich 1945 wieder publiziert. Seitdem erscheint die "Neue Rundschau" durchgehend bis heute.
Biografisches von Ingo Schulze und Dirk Oschmann
Während also die bedeutungsvolle Frage im Raum steht, wie die DDR zu erzählen sei, erhält man immer wieder auch aufschlussreiche Einblick in die Werkstätten und Biografien der Autoren und Autorinnen. So schreibt Ingo Schulze über die Entstehung seiner Romane und Dirk Oschmann über seine Jugend im "Leseland DDR".
Der Drehbuchautor Thomas Wendrich ("Herrhausen – Der Herr des Geldes") geht die Sache eher pragmatisch an, indem er sich zunächst die Frage stellt, warum er überhaupt die DDR erzählen möchte und an wen sich diese Erzählung richten könnte. Geht es ihm um den Erzählstil, um Unterhaltung, die Vermittlung eines Lebensgefühls, einer politischen Haltung – oder sogar um die Setzung eines Kontrapunkts im für ihn unstimmigen Kanon der Erzählungen über die DDR? Wendrich fragt auch: "Diktatur und Utopie – was sind das eigentlich für Kategorien?"
Diktatur und Utopie – was sind das eigentlich für Kategorien?
Verschiedene Perspektiven auf die DDR
Dass in diesem Band viele Fragen gestellt und allgemeingültige Antworten vermieden werden, macht ihn besonders lesenswert. Auch dass er ganz verschiedene Formen zulässt, ist schön. Ein gewohnt kritischer Essay von Ilko-Sascha Kowalczuk hat hier ebenso seinen Platz wie eine autobiografische Annäherung von Nadja Küchenmeister.
Und obwohl – oder gerade weil – die Texte formal so verschieden sind, werden sie der Komplexität des Themas gerecht. Einer Komplexität, die, auch das erfährt man hier, gern zu Gunsten von Effekten und Emotionen aufgeweicht wird, die vorherrschende Klischees eher festigen als überwinden.
Helden, Opfer, Mitläufer und dazwischen immer wieder die Stasi – so simpel war die Realität der DDR nicht und so simpel sollten auch die Erzählungen über sie nicht sein. Klingt logisch, muss aber offensichtlich noch mal so deutlich formuliert werden, wie es dieser tolle Band der "Neuen Rundschau" tut.
Informationen zur aktuellen Ausgabe
Neue Rundschau 2024/4: "Diktatur und Utopie – wie erzählen wir die DDR?"
Herausgegeben von Lektorinnen des S. Fischer Verlages und Charlotte Gneuß
Mit Texten von Ingo Schulze, Dirk Oschmann, Ilko-Sascha Kowalczuk, Ofer Waldman, Ines Geipel, Antje Rávik Strubel und anderen
108 Seiten, 17 Euro
ISBN: 978-3-10-809139-2
S. Fischer Verlag
Quelle: MDR KULTUR (Bettina Baltschev)
Redaktionelle Bearbeitung: op
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Mittag | 11. November 2024 | 13:10 Uhr