Leben mit ALS-Erkrankung Ein Rollstuhl für Mama und ihr bitteres Fazit: "Ich habe viel zu viel gearbeitet"
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01. Februar 2025, 11:40 Uhr
Janine Liebert freut sich: Endlich ist der neue Rollstuhl da. Die dreifache Mutter weiß, dass sie bald sterben wird. Doch zuvor soll der Rollstuhl ihr Lebensqualität zurückgeben. Denn viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Was sich die Mutter für ihre großen Söhne und den Zweijährigen von Herzen wünscht, hat sie MDR SACHSEN erzählt.
- Ein neuer Rollstuhl soll Janine Liebert wieder mehr Freiheit und Lebensqualität zurückgeben.
- Sorge um die Zukunft ihrer Familie: Im Internet hat die ALS-Patientin und dreifache Mutter einen Spendenaufruf gestartet.
- "Ich habe viel zu viel gearbeitet und zu wenig Zeit in die Familie investiert" sagt die unheilbar kranke Janine Liebert.
Für Janine war es ein großer Tag: Nach fünf Monaten Warten wird endlich ihr neuer Spezial-Rollstuhl geliefert. Im Gegensatz zu ihrem alten ist er voll elektrisch. 30.000 Euro kostet das Modell, das ihr ein Stück Selbstständigkeit zurück geben soll. Doch sie den Rollstuhl bekam, musste sie einen langen Weg gehen – genau wie ihr Leben mit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), eine unheilbare Nervenkrankheit, die nach und nach alle Muskeln lahmlegt und meist innerhalb weniger Jahre zum Tod führt.
Die dreifache Mutter aus Eula bei Borna hat eine seltene Variante der Krankheit. Ihre letzte Zeit will sie soweit das möglich ist genießen. Der neue Rollstuhl werde ihr dabei helfen: "Bei dem Rollstuhl kann ich die Beine hoch machen, mich hinlegen und den Rücken verstellen. Ich kann die Neigung des Stuhls vorstellen. Ich kann mich hinstellen und könnte vom Prinzip auch mal in der Küche eine Tasse aus dem Schrank nehmen, ohne immer gleich um Hilfe zu betteln." Der Rollstuhl befördert sie sowohl in senkrechte, als auch in waagerechte Positionen. Das konnte der alte nicht.
Weil die Geschäftsstellenleiterin einer Zeitarbeitsfirma den ganzen Tag in dem Rollstuhl sitzen muss, ist es für sie wichtig, ab und zu die Position ändern zu können.
Herausforderungen im Alltag
Fünf Monate lang hat sie auf den neuen Rollstuhl gewartet. Der neue Rollstuhl wurde mit einer Seilwinde über die Terrasse ins erste Stockwerk transportiert. Ihr Mann hat den "Kran", wie Liebert das Gerät nennt, selbst auf der Dachterrasse installiert.
Doch trotz des neuen Rollstuhls bleibt Janines Alltag eine Herausforderung. Der Zugang zu ihrem Haus bleibt schwierig. Für die Treppen braucht sie Hilfe. "Mein Mann und mein großer Sohn tragen mich die Treppen runter." Janine Liebert hofft, dass sie bald auch einen Treppenlift bekommt. Denn sie lebt hauptsächlich in der ersten Etage ihres Hauses. Die verlässt sie so selten wie möglich.
Unheilbar krank: Diagnose kommt plötzlich
Im Juli 2024 erfuhr Janine Liebert, dass sie unheilbar erkrankt ist. Etwa ein halbes Jahr zuvor bemerkte sie eine Art Muskelkater in einem Bein. Innerhalb weniger Monate verschlimmerten sich die Symptome: Es kamen Muskelkrämpfe, Schweißausbrüche, Rückenschmerzen und Lähmungen hinzu. Bald konnte sie ihr rechtes Bein nicht mehr bewegen, dann den Daumen. Ein harter Schlag, denn im Nebengewerbe war Janine Liebert Tätowiererin und ihr Mann hatte begonnen, im Erdgeschoss ein kleines Studio für sie herzurichten.
Heute sind ihre Beine und ein Arm vollständig gelähmt. Bewegen kann sie nur noch ihre Schulter und teilweise ihren Zeigefinger, sagt sie. "Irgendwann wird die Atemmuskulatur so gelähmt sein, dass ich keine Luft mehr bekomme", sagt sie sachlich. Kein Zittern in der Stimme. Sie greift zum ihrem Beatmungsgerät und erklärt, dass sie bereits jetzt ohne Beatmungsgerät nicht mehr schlafen könne.
Als alle Träume platzen
"Als die Diagnose kam, ist eine Welt zusammengebrochen", erinnert sich Janine Liebert. Drei Kinder, gerade erst ein eigenes Haus gekauft, der Traum vom heilen Familienleben. Das Haus ist nicht barrierefrei. Ihre Erkrankung war nicht vorhersehbar. Janine Liebert lebt in der ersten Etage.
Aus anfänglichen Schock wächst Lebensmut
"Ich habe die erste Woche verweint. Dann habe ich mir gedacht, es gibt zwei Optionen: Entweder ich stecke den Kopf in Sand und ich verbringe meine letzte Zeit nur noch mit Heulen und Ningeln. Oder ich beiße die Zähne zusammen und sage: 'Kopf hoch, weiter geht's.' Und verbringe die letzte Zeit noch als schöne Zeit mit meiner Familie und genieße jeden Moment. Ich denke das ist viel schöner." Janine Liebert hat sich für letzteres entschieden.
"Familienhörbuch" als akustisches Andenken
Für ihre Familie hat sie ein Familienhörbuch aufgenommen - ein akustisches Andenken. Mithilfe einer darauf spezialisierten Organisation hat sie für jedes Familienmitglied persönliche Aufnahmen gemacht. "Mein Kind oder mein Mann kann sich dann das Hörbuch anhören und denkt dann an mich und ich bleibe dadurch irgendwie erhalten." Was Janine Liebert aufgesprochen hat, sollen ihre Angehörigen erst erfahren, wenn sie nicht mehr da ist.
"Ich möchte, dass wir so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen, ohne, dass die Krankheit ständig im Hinterkopf ist". Die Mutter wünscht sich ein Stück Normalität. Nun ist sie jeden Monat in der Uniklinik Dresden, wo sie ein Medikament bekommt. Das werde ihr in die Wirbelsäule gespritzt und verlangsame das Fortschreiten der Krankheit enorm. "Ohne die Medizin wäre meine Lebenserwartung bei diesem aggressiven Typ der Krankheit, den ich habe, unter einem Jahr gewesen. Ohne das Medikament würde ich nicht mehr hier sitzen", sagt sie.
ALS-Patientin: "Familie völlig überfordert mit der Situation"
Janine Liebert hat drei Kinder: Marc (17), Luca (14) und John (2). Auch für ihre Familie war und ist die Diagnose ein Schock. "Man kann halt nichts tun. Es ist der absolute Horror." Der älteste Sohn habe anfangs viel geweint, der mittlere könne die Situation hingegen nicht akzeptieren. Er versuche zu verdrängen und mache sogar manchmal Pläne für die Zeit, wenn seine Mama wieder gesund sei, versucht Janine Liebert zu beschreiben, wie die Kinder mit ihrer Diagnose umgehen. Die beiden Großen seien trotzdem auf einem guten Weg, meint sie. Doch der Zweijährige sei hilflos. "Ich frage mich oft, was aus ihm nur werden soll."
Sorge um die Zukunft der Familie
Janine Liebert betont, wie wichtig es für sie ist, dass ihre Familie finanziell abgesichert ist. Der Kredit fürs Einfamilienhaus sollte bis zur Rente abbezahlt sein. Janine war voll berufstätig als Geschäftsstellenleiterin einer Zeitarbeitsfirma und ist auch jetzt noch ungekündigt. Ihr Mann arbeite als Servicetechniker im Bereich Notstrom-Anlagen. "Für uns beide zusammen war das gar kein Problem, das hier abzubezahlen. Doch dass einer von beiden stirbt, das haben wir nicht bedacht." Die Kosten fürs Haus und die Nebenkosten könne er nicht alleine stemmen.
Die 38-Jährige will ihre Lieben nicht dem Schicksal überlassen und hat sich entschlossen, ihre Situation öffentlich zu machen. über die Plattform "gofoundme" hat sie einen Spendenaufruf gestartet. "Ich möchte, dass mein Kleiner hier aufwachsen kann in unserem Haus. Ich lebe in diesem Haus ja irgendwo auch weiter." Und weiter: "Wenn ich wüsste, dass das klappt, dass sie hier nicht raus müssen, dann würde mir ein Stückchen Seelenfrieden geben", sagt Janine Liebert.
Überwältigt von Spendenbereitschaft
Mehr als 21.000 Euro sind online schon zusammen gekommen. Das Spendenziel ist Janine Lieberts Kreditanteil am Haus: 150.000 Euro. "Wir sind überwältigt, von der Spendenbereitschaft der Leute. Auch Fremde haben gespendet und liebe Nachrichten geschrieben."
Letzte Wünsche und Träume im Leben
"Ich würde gerne mal baden gehen." Im Meer, mit Badeanzug und Rollstuhl, das sei aber nicht so einfach möglich. Viel wichtiger sei ihr aber, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und zu wissen, das ihre Familie abgesichert sei, wenn sie geht.
Mein Fazit ist, und was ich jetzt bereue: Ich habe viel zu viel gearbeitet und zu viel Zeit in die Arbeit investiert und viel zu wenig in die Familie.
ALS-Patientin: "Habe viel zu viel gearbeitet!"
Janine Liebert möchte ihre Situation auch nutzen, um auf die Krankheit ALS aufmerksam zu machen. Sie betont, dass ALS jeden treffen kann und wie wichtig es ist, sich Zeit für die Familie zu nehmen. "90 Prozent der ALS-Erkrankungen sind nicht genetisch bedingt, sondern spontan. Es kann also jeden treffen."
Was sie anderen auch auf den Weg geben möchte: "Mein Fazit des Ganzen ist, und was ich jetzt bereue: Ich habe viel zu viel gearbeitet und zu viel Zeit in die Arbeit investiert und viel zu wenig in die Familie. Man merkt erst wie wichtig das ist, wenn es nicht mehr geht."
MDR (kk)
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Januar 2025 | 16:02 Uhr