Arbeitsmarkt Kein Lohn am ersten Krankheitstag - Dresdner Ökonom lehnt Vorschlag ab
Hauptinhalt
15. Januar 2025, 08:00 Uhr
Kein Lohn mehr am ersten Krankheitstag: Dieser Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte hat auch in Mitteldeutschland viele Menschen auf die Palme gebracht. Doch ist das wirklich der richtige Weg, um etwas gegen das Rekordhoch bei den Krankschreibungen zu tun? Darüber hat MDR SACHSEN mit dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Joachim Ragnitz von der Dresdner Niederlassung des ifo-Instituts gesprochen. Die Reform der Krankschreibung ist auch Thema bei "Fakt ist!" im MDR FERNSEHEN.
Herr Professor Ragnitz, Allianz-Chef Oliver Bäte will Arbeitnehmern am ersten Krankheitstag den Lohn streichen. Ist Deutschland wirklich ein Volk von Blaumachern?
Prof. Joachim Ragnitz: Tatsächlich weiß man nichts darüber, inwieweit Leute blaumachen. Da gibt es keine Statistiken dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das weit verbreitet ist. Deutschland ist kein Volk von Faulenzern. Wenn jemand einen Job hat, will er den normalerweise auch vernünftig machen. Der Vorschlag zeugt von Misstrauen gegenüber den Menschen, die sich krankmelden. Das ist schon von der Einstellung her eine problematische Herangehensweise.
Wie sinnvoll ist der Vorschlag mit Blick auf die Zahlen? Ließen sich wirklich die von Bäte genannten 40 Milliarden Euro einsparen?
Ehrlich gesagt, diese hohe Zahl, die er da nennt, diese 40 Milliarden Euro, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn man das überschlägt, kommt man, je nachdem wie viele Leute tatsächlich krank sind, wie lange sie krank sind und wie oft sie krank sind, auf einen Betrag in der Größenordnung von unter 10 Milliarden Euro - also weit weg von der Zahl, die er da in die Welt gesetzt hat.
Wenn sich Menschen aus Angst krank zur Arbeit schleppen, könnte das weitere Probleme verursachen…
Ja, das führt möglicherweise dazu, dass Krankheiten verschleppt werden und die Leute am Ende viel länger krank sind. Auch Kolleginnen und Kollegen könnten angesteckt werden. So gesehen wäre ich mit solchen harschen Forderungen, keinen Lohn am ersten Krankheitstag zu zahlen, sehr vorsichtig. Da gibt es sicherlich andere Lösungen, um das Blaumachen zu verhindern.
Wie könnten die aussehen?
Es wäre denkbar, den Zeitraum zu verkürzen, in dem sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne ärztliches Attest krankmelden können. Bisher muss es spätestens nach dem dritten Krankheitstag vorgelegt werden. Von daher könnte man sagen, dass es in den ersten zwei Tagen nur noch 80 Prozent des Lohns gibt, wenn kein Attest vorliegt.
Rückwirkend sollte dann der volle Lohn gezahlt werden, sobald die Krankheit ärztlich bescheinigt wird. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei dieser Regelung die Einsparungen gering und die Bürokratiekosten so groß wären, dass man eigentlich auch darauf verzichten könnte.
Manche sprechen davon, dass in den Zahlen zur Krankschreibung ein statistischer Effekt drin ist, weil durch ein neues Meldeverfahren die Arztatteste zur Arbeitsunfähigkeit automatisch bei den Krankenkassen eingehen. Was ist da dran?
Wenn wir jetzt bei den Krankmeldungen zum Teil einen schlagartigen Anstieg von bis zu 60 Prozent sehen, dann ist da auf jeden Fall ein statistischer Effekt drin, der auf diesen automatischen Abgleich zurückzuführen ist. Das Statistische Bundesamt spricht von 15 Krankheitstagen pro Jahr. Dort werden jedoch nur die Krankmeldungen aufgrund eines ärztlichen Attestes berücksichtigt. In Wirklichkeit ist die Zahl wohl höher.
Eine Studie der Krankenkasse TKK berichtet von 18 Tagen bei ihren Versicherten. Andere sprechen gar von 20 bis 25 Tagen. Das heißt, es gibt diese statistischen Abweichungen. Wie viel Krankheitsausfall jetzt tatsächlich da ist und ob der stark angestiegen ist, wissen wir gar nicht genau.
Je wirtschaftlich rauer die Zeiten sind, desto drastischer scheinen die Vorschläge zu werden. Wäre es nicht besser, wenn Arbeitgeber in Zeiten des Fachkäftemangels dafür sorgen, dass Arbeitnehmer gern auf Arbeit gehen und Krankheitstage gar keine Rolle mehr spielen?
Das ist sicherlich der sinnvollere Ansatz. Es gab jetzt den Vorschlag mit den Karenztagen, andere wollen die Feiertage auf das Wochenende verlegen. Für mich sind das Diskussionen von gestern. Aufgrund des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels sitzen die Arbeitnehmer mittlerweile am längeren Hebel. Darauf müssen sich die Unternehmen einstellen und versuchen, den Präferenzen der Menschen entgegenzukommen.
Ein großes Thema sind auch flexible Lösungen. Mit Blick auf Krankschreibungen wurde bereits diskutiert, ob es die auch stundenweise geben könnte. Wie realistisch ist so etwas?
Das kommt immer auf den jeweiligen Bereich an. In der Schichtarbeit im Automobilbau nützt es nichts, wenn jemand nach drei Stunden zurück an den Arbeitsplatz kommt. In der Verwaltung, im Büro, geht das schon eher. Da es dort oft schon flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit von Homeoffice gibt, braucht man aber nicht unbedingt ein extra Instrument. Das könnte ja nur helfen, wenn beispielsweise jemand verkatert ist. Aber auch das lässt sich ja mit flexiblen Arbeitszeiten regeln.
Ist die ganze Diskussion um die Krankschreibung am Ende nur ein Sturm im Wasserglas?
Die Krankmeldungen sind in der Tat eher Kleckerkram. Dass sich Deutschland in einer wirtschaftlichen Schwächephase befindet, liegt nicht an den Krankschreibungen, sondern vor allem an der mangelnden Investitionsbereitschaft, der ausgeprägten Bürokratie und den hohen Energiepreisen. Das sind die Themen, an die wir rangehen müssen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! | 15. Januar 2025 | 20:15 Uhr