Sprache verbindet Pirna: Wo Tschechen und Deutsche gemeinsam zweisprachig Abi machen
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09. Januar 2023, 05:00 Uhr
Wer an einem Nachmittag unter der Woche in Pirna jungen Leuten begegnet, die sich auf Tschechisch unterhalten, läuft nicht unbedingt Ausflüglern aus dem nahen Nachbarland über den Weg. Viel wahrscheinlicher sind es Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums. Dort wird in jedem Jahrgang eine Klasse bilingual unterrichtet - 15 Tschechen und 15 Deutsche. Ihr Abitur ist dank eines speziellen Stundenplans in beiden Ländern anerkannt. MDR SACHSEN hat diese besondere Schule besucht.
"Ich bin stolz darauf, wenn ich meinen tschechischen und meinen deutschen Schülern ihr Abiturzeugnis überreichen kann." Mit diesen Worten macht Tomáš Křenek klar, dass ein zweisprachiger Abschluss am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pirna eine echte Leistung ist und nicht mal eben aus dem Ärmel geschüttelt werden kann.
Der Projektkoordinator für das Abitur in Deutsch und Tschechisch sagt: "Unsere Schüler müssen mehr leisten als für ein nationales Abitur". Das sogenannte binational-bilinguale deutsch-tschechische Projekt sei in dieser Form bislang einmalig, so der promovierte Geograf. Der Abschluss wird in Deutschland und in der Tschechischen Republik gleichermaßen anerkannt und berechtigt zum Studium an Universitäten beider Länder ohne weitere Sprachtests.
Aufnahmetest für alle obligatorisch
Einen Test allerdings müssen alle Schülerinnen und Schüler absolvieren, bevor sie am staatlichen Gymnasium in Pirna für die zweisprachige Schulausbildung aufgenommen werden. Unter anderem werden dabei Mathematik, Merkfähigkeit, Sprachbegabung, Hören, Sprechen und Gesprächsführung überprüft. Tschechischkenntnisse sind nicht erforderlich - ebensowenig wie Deutschkenntnisse bei den tschechischen Bewerbern.
Deutsche Schülerinnen und Schüler erhalten in den Klassenstufen 5 und 6 die erforderlichen Tschechisch-Kenntnisse, um ersten bilingualen Unterricht ab Klasse 7 absolvieren zu können. Dann stoßen die tschechischen Schülerinnen und Schüler zur Klassengemeinschaft und die Jugendlichen lernen die Sprachen fortan in ihrem Alltag auch voneinander. Insgesamt 30 Lernende - 15 aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und 15 aus der gesamten Tschechischen Republik - gehören pro Jahrgang zu einer Klasse. Kunsterziehung wird vom Start weg komplett in Tschechisch, Musik und Sport ausschließlich in Deutsch unterrichtet.
Geringe Klassenstärke bei deutschen Schülerinnen und Schülern beliebt
Bei anderen Fächern werden die Klassen bis zur Stufe 10 geteilt und in der jeweiligen Muttersprache von Lehrern aus dem Heimatland unterrichtet, um das fürs Abitur notwendige Leistungsniveau erreichen zu können. Das bedeutet zugleich, dass die Schülerinnen und Schüler bei einer Klassenstärke von 15 optimal betreut werden können. Genau dieser Klassenteiler sei auch ein Argument für viele deutsche Jugendliche und ihre Eltern, sich für die bilinguale Ausbildung am Pirnaer Gymnasium zu bewerben, weiß Tomáš Křenek. Einige würden das Erlernen der tschechischen Sprache dafür quasi nebenher in Kauf nehmen. Tschechische Bewerber strebten hingegen meist ein Studium an einer deutschen Universität an. Über alle Schuljahre hinweg werden die Deutsch- und Tschechischkenntnisse soweit vertieft, dass in der Oberstufe ausschließlich bilingual unterrichtet werden kann.
Tschechische Eltern organisieren Fahrgemeinschaften für ihre Kinder
So verwundert es auch nicht, dass die Schülerinnen und Schüler in der 11. Klassenstufe auch außerhalb des Unterrichts fließend und scheinbar mühelos zwischen Deutsch und Tschechisch wechseln. Hana Húdková erzählt, dass sie auf deutsche Fragen in Tschechisch antwortet oder umgekehrt. Die Schülerin lernt gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Petra an der Schule in Pirna. Ihr Vater sei Geschäftsmann und viel in Deutschland unterwegs, erzählen die Schülerinnen. Er habe letztendlich auch die beiden Mädchen für die bilinguale Schulausbildung begeistert. Dafür nehmen die Schwestern weite Wege in Kauf. Sie kommen aus Mähren und pendeln jedes Wochenende 800 Kilometer zwischen dem Internat in der Pirnaer Altstadt und ihrer Familie hin und her, wobei der Vater die An- und Abreise seiner Töchter mit seinen Geschäftsterminen kombiniert. Anders als mit dem Auto sei die Entfernung kaum zu bewältigen. Und am Wochenende ist das Internat geschlossen.
Tschechische Schüler wollen in Deutschland studieren
Miroslav Ottel wohnt in Ústí nad Labem oder wie er es formuliert: "Ich komme aus Aussig." Eine Freundin besuchte schon das Pirnaer Gymnasium und deshalb wollte auch er unbedingt an die zweisprachige Schule. Zuvor habe er eigentlich kein Wort Deutsch gesprochen, dabei gibt es in Ústi durchaus viele sächsische Tagesgäste. Sein Mitschüler Vojtěch Kubát aus der Nähe von Teplice (Teplitz) im Erzgebirge hatte schon früh ein Studium in Deutschland im Blick und strebt deshalb auch ein deutsches Abitur an. Paläontologie sollte es anfangs werden, inzwischen schwankt der sympathische und selbstbewusste junge Mann zwischen Orchesterleitung und Teilchenphysik.
Aus Pirna besucht Friedrich Hofmann das Gymnasium in seiner Heimatstadt. Er setzt seine Worte wohl überlegt und räumt ein, dass er als Viertklässler wohl schon dem Rat seiner Eltern gefolgt und so letztendlich im bilingualen Unterricht gelandet sei. Seine Schwester hatte zuvor denselben Weg eingeschlagen. Lara Thiel ist begeisterte Outdoorsportlerin und war schon von Kindertagen an oft mit ihrem Vater in Tschechien zum Klettern. "Ich hatte schon immer eine Beziehung zu dem Land und dann kann es nicht schaden, auch die Sprache zu sprechen." Mitschülerin Maria Dreßler ist über Empfehlungen an der deutsch-tschechischen Schule gelandet. Eine besondere Beziehung zum Nachbarland habe sie hingegen zuvor nicht gehabt.
Gemeinsame Freizeitgestaltung nach dem Unterricht
Die Jugendlichen verbringen nach dem Unterricht viel Zeit gemeinsam. Die tschechischen Mitschülerinnen und Mitschüler sind regelmäßig bei ihren deutschen Klassenkameradinnen und -kameraden zu Gast. Es wird gemeinsam am PC gezockt oder durch die Stadt gebummelt. "Tschechen gehören zu Pirna", formuliert es Lehrer Tomáš Křenek mit einem Augenzwinkern.
Fernsehen und WLAN - Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie
In ihrem Internat haben die jungen Leute aus dem Nachbarland auch schon deutsche Bürokratie kennengelernt. Ganze vier Jahre habe die Anschaffung eines Flachbildfernsehgerätes gedauert, erzählt Vojtěch und kann inzwischen darüber schmunzeln. Schließlich hat sich die Hartnäckigkeit gelohnt. Er konnte sich gegen den Denkmalschutz durchsetzen und die Stadt Pirna als Träger der Schule und des Internats hat eingelenkt.
Auf gutes WLAN in ihrer Unterkunft warten die Schülerinnen und Schüler noch immer - dabei wäre das angesichts der großen Entfernung zu ihren Familien mehr als nur gerechtfertigt. Zwar würden die Jugendlichen ermuntert, Probleme anzusprechen. Tun sie es, würde das jedoch nicht selten als störend empfunden. Davon lassen sie sich aber nicht beeindrucken.
Grammatik-Büffeln strengt alle an
Und was ist nun das schwierigste an der jeweils anderen Sprache? Da sind sich die deutschen und tschechischen Schüler einig: die Grammatik. Auch kleine kulturelle Unterschiede haben die Tschechen ausgemacht: Auf ihren manchmal derben Humor seien die Deutschen anfangs nicht eingestellt gewesen. "Ich habe einen Witz gemacht und keiner hat gelacht", sagt Vojtěch und zuckt mit den Schultern. Und Hana musste sich zunächst an sächsische Eintopfgerichte gewöhnen. Diese gebe es in der mährischen Küche nämlich nicht.
Um kulturelle Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Bereicherungen geht es auch in einem binational-bilingualen Pflichtkurs in den Jahrgangsstufen 11 und 12, der laut Schule an keinem anderen tschechischen oder deutschen Gymnasium unterrichtet wird. Dabei würden auch schmerzhafte Kapitel aus der Geschichte beider Länder jeweils aus der Sichtweise beider Nationen von deutschen und von tschechischen Lehrkräften behandelt. Deutsche Ostkolonisation, Kaiser Karl IV., die Reformatoren Jan Hus und Martin Luther, deutsche und tschechische Stereotype, deutsch schreibende tschechische Literaten und letztendlich die Ereignisse des 20. Jahrhunderts werden den Angaben zufolge betrachtet.
Unterrichtsbestandteil sind ferner Bildungsreisen in Deutschland und nach Tschechien sowie Schülerpraktika im jeweils anderen Land in der 9. Klassenstufe. Miroslav erinnert sich, es habe bis etwa zur 10. Klasse gedauert, bis er so gut Deutsch beherrschte, dass er problemlos im Alltag ohne Wörterbuch kommunizieren konnte. Fürs Textinterpretieren im Deutschunterricht und für manche Geschichtsliteratur sei ein Wörterbuch aber immer noch hilfreich.
Wo in Sachsen zweisprachige Schulbildung möglich ist
Neben dem Gymnasium in Pirna gibt es ein zweites binational-bilinguales Gymnasium in Sachsen: das Augustum-Annen-Gymnasium in Görlitz. Auch an diesem Gymnasium wird nach Angaben des Kultusministeriums "das Fach Geografie ab der Klassenstufe 7 bilingual unterrichtet und vermittelt ausgehend vom sächsischen Lehrplan fachliche Inhalte zunehmend auf Polnisch, für die Oberstufenschüler wird ein bilingualer Grundkurs Geografie in englischer Sprache angeboten, der fächerverbindende Grundkurs deutsch-polnische Beziehungen ist für sie verpflichtend zu belegen".
Zudem gibt es weitere Gymnasien mit sogenannter vertiefter sprachlicher Ausbildung:
- Anton-Philipp-Reclam-Schule - Gymnasium der Stadt Leipzig
- Christoph-Graupner-Gymnasium Kirchberg (bei Zwickau)
- Georgius-Agricola-Gymnasium Chemnitz
- Gymnasium St. Augustin zu Grimma
- Romain-Rolland-Gymnasium Dresden
Details zu Unterrichtsschwerpunkten gibt es in einer Broschüre des Freistaates. Neben diesen Schulen sind weitere als CertiLingua-Schulen mit vertiefender bilingualer Ausbildung anerkannt. Hierzu gehören das Martin-Rinckart-Gymnasium in Eilenburg, das Bertolt-Brecht-Gymnasium in Dresden, das Magnus-Gottfried-Lichtwer-Gymnasium in Wurzen sowie das Thomas-Mann-Gymnasium in Oschatz.
Internationales Sprachdiplom in Dresden und Meißen möglich
Das Kultusministerium verweist darauf, dass das Bertolt-Brecht-Gymnasium Dresden - ebenso wie das Landesgymnasium Sankt Afra zu Meißen - in der gymnasialen Oberstufe die Möglichkeit der Teilnahme an dem International Baccalaureate (IB) Diploma Programme (DP) bietet. Ziel ist der Erwerb des IB als zusätzlichen Abschluss zum Abitur. Im Rahmen dieses Bildungsangebotes wird verstärkt Unterricht in Sachfächern in englischer Sprache erteilt, so etwa in Mathematik, Biologie, Physik, Geschichte, aber auch in Kunst. Außerdem wird ein fächerverbindender Wahlgrundkurs "Theory of Knowledge" angeboten.
Zahlen und Fakten zum Friedrich-Schiller-Gymnasium Pirna
- Zahl der Schüler insgesamt: 837, davon 131 in der bilingual-binationalen Ausbildung
- Diese Klassenstufen werden unterrichtet: 5 bis 12
- Der Klassenteiler in der bilingual-binationalen Ausbildung liegt bei 15.
- Die Kosten für das Internat für die tschechischen Schülerinnen und Schüler liegt bei monatlich 306,78 Euro.
- Das Gymnasium ist ein staatliches Gymnasium.
- Für die bilingual-binationale Ausbildung müssen die Schülerinnen und Schüler einen Aufnahmetest in Tschechien beziehungsweise in Sachsen absolvieren.