Schule in Sachsen Zwischen Bestnoten und Baustellen in der Bildung
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11. Januar 2023, 10:53 Uhr
Bücher, Overhead-Projektor, Kreidetafel und vorne steht eine Lehrkraft - so haben viele Menschen früher die Schule erlebt. Doch in den vergangenen Jahrzehnten hat sich einiges in der Schullandschaft getan: freie Schulen, neue Lernkonzepte und die Digitalisierung im Klassenzimmer haben das Lernen auch in Sachsen verändert. Doch welche Möglichkeiten haben Schülerinnen und Schüler heutzutage, ihre Stärken im Lernen zu finden? Und wo gibt es in den Schulen Sachsens noch Nachholbedarf?
- Studien und Bildungsmonitore vergeben regelmäßig gute Noten an das Bildungssystem in Sachsen.
- Einigen Forschern und Pädagogen geht die Entwicklung des Bildungssystems zu langsam voran. Sie kritisieren auch die hohe Schulabbrecherquote im Freistaat, eine zu frühe Selektion in der 4. Klasse und zu wenig unterschiedliche pädagogische Ansätze.
- Grundsätzlich gibt es in Sachsen verschiedene Schwerpunkt- und inzwischen auch erste Gemeinschaftsschulen.
Bildung ist Ländersache. Dabei scheint Sachsen seine Sache ganz besonders gut zu machen. Das für die Schulbildung zuständige Kultusministerium teilt mit: "Regelmäßig nimmt Sachsen gemeinsam mit Bayern Spitzenplätze bei nationalen und internationalen Bildungsvergleichen wie z. B. dem IQB-Bildungstrend oder dem Bildungsmonitor ein. Als besondere Stärken heben die Experten die gut ausgebildeten sächsischen Lehrkräfte und die Stabilität des Bildungssystems hervor."
Forscherin: Beharrlichkeit ist auch Nachteil
Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaft der TU Dresden, sieht in dieser Stabilität aber auch negative Seiten: "Das sächsische Bildungssystem steht für Kontinuität und Beharrlichkeit, das hat immer Vor- und Nachteile. Für die Digitalisierung und die Inklusion in Schule war das jedoch bisher ein Nachteil."
Nachdem das sächsische Schulgesetz 1991 erstmalig verfasst wurde, habe es erst 2017 nach mehr als zwei Jahrzehnten - abseits von kleinen Anpassungen - eine Neufassung erfahren. "Das Bildungsressort in Sachsen ist seit 1990 in konservativer Hand. Sie hat schulische Bildung immer auf das Bewahren von Bisherigem ausgerichtet", sagt Langner. Zukunftsorientiertes Gestalten habe sich deshalb an der bisherigen schulischen Praxis orientiert. Das habe verhindert, Schule für die Zukunft aufzustellen.
Kultusministerium strebt keine Revolution des Bildungssystems an
Stabilität, darauf besteht das Kultusministerium auf Nachfrage von MDR SACHSEN, bedeute nicht Stillstand, sondern kontinuierliche Weiterentwicklung. "Durch Modelle wie die 'Oberschule plus', die Gemeinschaftsschule oder durch Lehrplanaktualisierungen (2007/2009/2011/2019) wird das sächsische Schulsystem permanent weiterentwickelt." Es brauche keine Revolution mit offenem Ausgang, sondern eine Weiterentwicklung mit Augenmaß und Verantwortung. Inwieweit Kontinuität und Beharrlichkeit Vor- und Nachteile für ein Schulsystem mit sich bringen, hänge von der Perspektive und der Verantwortung ab. "Wissenschaft ist in der komfortablen Situation, aus dem Elfenbeinturm heraus innovative Entwicklungen zu benennen und zu initiieren. Das ist auch ihre Aufgabe", so das Kultusministerium.
Wissenschaft ist in der komfortablen Situation, aus dem Elfenbeinturm heraus innovative Entwicklungen zu benennen und zu initiieren.
Sachsen mit hoher Quote bei Schulabbrechern
Das Ministerium verweist darauf, dass Sachsen bei der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzvermittlung in Deutschland führend sei. "Durch die Wissenschaft und Wirtschaft wird die Leistungsorientierung des sächsischen Schulsystems geschätzt", heißt es weiter. Doch gerade diese Leistungsorientierung könnte für eine beachtliche Zahl von Schülerinnen und Schülern ein Problem darstellen. "Wir haben in Sachsen bundesweit die höchste Schulabbrecherquote", sagt Langner. Der Freistaat gehöre damit zu den Schlusslichtern im gesamten Land. "Diese Wahrheit wird bei der Auswertung der PISA-Ergebnisse nicht genannt", erklärt die Professorin. Auf der Schullaufbahn würden "viel zu viele Kinder" verloren gehen. Ohne Schulabschluss und Ausbildung hätten sie jedoch kaum eine Chance in der hochspezialisierten Gesellschaft von heute.
Das Ministerium räumt ein, dass der Anteil von Schülerinnen und Schülern ohne Schulabschluss auf dem ersten Bildungsweg eine Herausforderung sei. Man habe bereits viele Maßnahmen ergriffen, um diesen Anteil zu senken. Als Beispiel gibt das Kultusministerium das "Programm 'Produktives Lernen', Praxisberater, Berufseinstiegsbegleiter, Lerncamps, individuelle Förderung durch Ganztagesangebote, den vielen Möglichkeiten, den Abschluss auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen sowie den multiprofessionellen Teams an Schulen" an. Die Maßnahmen setzen also dann an, wenn deutlich wird, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht nicht mehr mitkommen oder bereits die Schule abgebrochen haben.
Schulabbrecher in Sachsen: Bildungsmonitor 2022
Der INSM-Bildungsmonitor 2022 bescheinigt Sachsen Bestenoten bei der Schulqualität und der Förderinfrastruktur.
Allerdings zeigen die Zahlen auch, dass der Freistaat bei den Schulabgängern ohne Abschluss nachbessern muss: Die Quote der Schulabbecher liegt laut Ergebnissen des Bildungsmonitors bei 7,8 Prozent. Damit belegt Sachsen im Vergleich der Bundesländer Platz 13. Nur Bremen, Schleswig-Holstein und das Nachbarland Sachsen-Anhalt haben noch höhere Quoten.
Die Vergleichsstudie wird seit 2004 vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt. Sie analysiert und vergleicht anhand von verschiedenen Themenfeldern die Leistungsfähigkeit und Ausrichtungen der Bildungssysteme der einzelnen Bundesländer.
ISNM-Bildungsmonitor 2022
Selektion nach der 4. Klasse: Mehr Schaden als Nutzen?
Doch wie könnte man früher ansetzen und das Problem gar nicht erst entstehen lassen? Möglich wäre, über den Bildungsweg der Kinder nicht schon in der 4. Klasse zu entscheiden, und damit leistungsstarke und -schwache Schüler frühzeitig zu trennen. Die Schulleiterin der Universitätsschule in Dresden, Maxi Heß, sagt: "Eine solche frühe Selektion wirkt sich nachweislich nachteilig auf die Schülerinnen und Schüler aus." Und auch Forscherin Langner erklärt: "Der Selektionsgedanke im System bewirkt ganz viel. Eine frühe Selektion funktioniert nur für die Elite, für die leistungsstarken Kinder." Schule müsse sich mit der Gesellschaft verändern und für alle funktionieren - nicht nur für die Elite.
Eine frühe Selektion funktioniert nur für die Elite, für die leistungsstarken Kinder.
"Wir brauchen einen Paradigmenwechsel", erklärt auch Pädagogin Heß. "Um den Veränderungen in der Gesellschaft Rechnung zu tragen, brauchen wir veränderte Bildungsprozesse, veränderte Kompetenzen und auch eine veränderte Haltung". Man müsse sich von dem überholten Bild einer Schule mit kleinen homogenen Klassen verabschieden. Die Gesellschaft habe sich komplex entwickelt, ebenso die Menschen darin. "Heute sind wir alle extrem verschieden. Wir müssen uns an diese Heterogenität gewöhnen."
Heterogene Schule in Sachsen - gibt es das?
Heterogen - das bedeutet, verschieden sein. Im Fall der Schülerschaft also verschiedene Stärken, Lerngeschwindigkeiten und Interessen haben. In der Gesamtbetrachtung der allgemeinbildenden Schulen in Sachsen gibt es hier ein breites Angebot - zumindest in den großen Städten: Wer ganz besonders sportlich ist, könnte die Sportoberschule oder das Sportgymnasium in Chemnitz besuchen, wo neben dem Unterricht in 13 Sportarten mehrfach am Tag trainiert wird. Soll der Fokus auf einer Fremdsprache liegen? Dann stehen neben dem Schiller-Gymnasium in Pirna, in dem Schülerinnen und Schüler ein deutsches und tschechisches Abitur machen können, noch viele weitere Schulen mit Sprachprofil zur Verfügung. Ebenso gibt es Schulen, die einen ausgeprägten technisch-naturwissenschaftlichen Fokus oder ein künstlerisch-musikalisches Profil haben.
Verschiedene Schwerpunkte, ähnliche Pädagogik
Diese Schulprofile gibt es bereits seit vielen Jahren. Doch so unterschiedlich die Schwerpunkte der Schulen auch sind, dahinter stehen in der Regel ähnliche Pädagogiken und Arten der Wissensvermittlung. Kennzeichen dafür ist beispielsweise das Lernen nach einem festgelegten Lehrplan oder die Vergabe von Schulnoten. Dem gegenüber stehen reformpädagogische Ansätze, wie im Montessori-Schulzentrum in Leipzig, oder Modellschulen, wie die Unischule in Dresden. An beiden Schulen können Kinder ab der 1. Klasse lernen und verschiedene Abschlüsse erwerben - vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Dabei müssen sie die gleichen Prüfungen ablegen, wie alle anderen Schülerinnen und Schüler in Sachsen auch. Allerdings bestimmen die Kinder und Jugendlichen den Angaben zufolge selbst, was sie wann und in welchem Tempo lernen. Schulnoten gibt es deutlich später als an anderen Schulen, um keinen Druck aufzubauen, wie die Direktorin der Unischule, Heß, erklärt.
Gemeinschaftsschulen in Sachsen
Die Universitätsschule ist seit Beginn dieses Schuljahres eine Gemeinschaftsschule - ein noch recht junges Modell in Sachsen. Die gesetzliche Grundlage dafür hatte im Juli 2020 der Sächsische Landtag geschaffen. Seitdem können nach Angaben des Vereins "Gemeinsam länger lernen in Sachsen" Gemeinschaftsschulen im Freistaat neu gegründet, aber auch bestehende Schulen umgewidmet werden. Der Vorsitzende des Vereins, Florian Berndt, ist allerdings enttäuscht von der bisherigen Bilanz: "Die Gründung von Gemeinschaftsschulen und Oberschulen Plus gehen in Sachsen aus unserer Sicht sehr schleppend voran, in zwei Jahren hätte mehr passieren müssen".
Aktuell bieten nur drei Schulen in Sachsen die neue Schulform an, eine Schule in privater Trägerschaft in Leipzig und zwei öffentliche Schulen in Dresden. Im ländlichen Raum gibt es keine Gemeinschaftsschule. Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW), Uschi Kruse, sieht zu hohe Hürden als Grund für das fehlende Angebot: "In der 5. Klassenstufe müssen mindestens vier Parallelklassen eingerichtet werden. Damit kommt diese Schulform praktisch nur für Großstädte in Frage."
Lehrermangel größtes Problem in Sachsen
Das Kultusministerium verweist darauf, dass die Regelung zu Gemeinschaftsschulen recht neu sei. Schulen seien bereits dabei, Konzepte zu erarbeiten. Das Ministerium setzt demnach auf Abwarten. Womöglich auch, weil die Gemeinschaftsschulen gerade nicht zu den drängendsten Problemen des Ministeriums gehören. Von vielen Seiten gibt es seit Jahren Kritik - vor allem, was Defizite in der Digitalisierung angeht, die während der Corona-Pandemie deutlich sichtbar wurden.
Auch die hohe Zahl an ausfallenden Schulstunden macht Eltern Sorge. Grund dafür ist der hohe Krankenstand der Lehrkräfte - und der Lehrkräftemangel selbst. Das Kultusministerium teilt dazu mit: "Die größte Herausforderung liegt in der Besetzung der freien Lehrerstellen. Es mangelt hier nicht am Geld oder an freien Stellen, sondern an Köpfen." Das sei nicht nur in der Bildung ein Problem, sondern auch bei Richtern, Busfahrern und Ärzten. Eine weitere Herausforderung sei die politische Bildung junger Menschen und das Vermitteln von Medienkompetenz.
Sachsens Schulen: Evolution statt Revolution
Um die Schulen fit für die Zukunft zu machen, hat Kultusminister Christian Piwarz bereits 2019 das Vorhaben "Bildungsland Sachsen 2030" ins Leben gerufen. "Hier geht es um die Zukunft und die Weiterentwicklung schulischer Bildung unter Einbindung von Experten aus der Praxis wie dem Landesschülerrat, Landesbildungsrat und verschiedener Schulleitungen", erklärt sein Ministerium auf Nachfrage. Auch durch eine öffentliche Beteiligung sollen weitere Ideen, Hinweise und Anregungen aufgenommen werden. "Dabei geht es nicht um eine Revolution unseres Bildungssystems, sondern um eine Evolution", heißt es weiter.
Bedächtig aber stetig, das scheint auch weiterhin die Vorgehensweise des Kultusministeriums in Sachen Bildungsreise zu bleiben. Professorin Langner ist dabei vor allem eines wichtig - unabhängig von der Schulform: Alle Schüler und Schülerinnen sollen mitgenommen werden. Von Lernenden aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten, über Migranten und Schülern mit Beeinträchtigungen bis zu leistungsstarken Schülern. "Alle gehören zur Gesellschaft", gibt sie zu bedenken. "Eine weitere Selektion können wir uns als Gesellschaft nicht mehr leisten."
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 10. Januar 2023 | 20:00 Uhr