Werkstatt für Menschen mit Behinderungen "Haben keinen Einfluss" - Ingolf und Dirk arbeiten für unter zwei Euro die Stunde

26. Dezember 2023, 08:00 Uhr

Mehr als 16.000 Männer und Frauen arbeiten in Sachsen in Behindertenwerkstätten. Sie verpacken Dinge, schrauben Geräte zusammen, leisten einfache und meist monotone Arbeit. Dafür erhalten sie einen Stundenlohn, der in der Regel unter zwei Euro liegt und sie von weiteren Sozialleistungen abhängig macht. Das empfinden Beschäftigte und deren Angehörige als nicht fair.

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  • Viele Menschen mit Behinderungen können von ihrer Arbeit nicht leben.
  • Das System der Bezahlung und zusätzlicher Sozialleistungen ist kompliziert.
  • Eine vom Bund beauftragte Studie sieht Reformbedarf beim Werkstattentgelt.

Dirk Jüstel ist zu Besuch in Ingolf Stolls Einliegerwohnung unterm Dach von dessen Elternhaus. Die beiden Löbauer genießen ihren Urlaub rund um die Feiertage. Auf dem Tisch steht eine Pyramide, am Schrank hängt ein kleiner roter Herrnhuter Weihnachtsstern. "Gucken Sie, hier haben wir die Stecker gemacht", zeigt Dirk Jüstel auf den Stern. Der Mann ist 56 Jahre alt und arbeitet wegen seiner geistigen Behinderung in einer WfbM - einer Werkstatt für behinderte Menschen. 2024 werden es 40 Arbeitsjahre sein, wie er mit Stolz verkündet.

Die Arbeit gefällt uns gut. Das Geld ist nicht viel.

Ingolf Stoll Beschäftigter in einer WfbM

Zuletzt hatte er in diesem Jahr Steckdosen montiert - mit dem Akkuschrauber, sieben Stunden lang, zwölf oder dreizehn Kisten pro Tag. "Wir haben darauf keinen Einfluss, wir müssen das machen, was im Lager unten ankommt", erklärt sein Kumpel Ingolf Stoll und betont gleichzeitig: "Die Arbeit gefällt uns gut." Nur der Verdienst: "Das ist nicht viel. Wir ärgern uns zwar, aber wir haben darauf keinen Einfluss", sagt der 55-Jährige.

Eine Person an einer Werkbank
In den Werkstätten werden einfache und häufig monotone Arbeiten erledigt. (Symbolbild) Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Stundenlohn liegt unter zwei Euro

240 Euro beträgt der Monatslohn. Das sind weniger als zwei Euro die Stunde. Dirk Jüstel wohnt in einer eigenen Wohnung, kauft selbst ein, geht manchmal zu Veranstaltungen und Gottesdiensten. Weil der Löbauer von dem Lohn allein nicht leben kann, bezieht er eine Erwerbsminderungsrente. Sein Bruder unterstützt ihn in solchen Dingen. Was sich Dirk Jüstel leisten würde mit mehr Geld? Ein neuer Kühlschrank wäre so eine Sache. "Bei mir ist der Kühlschrank so klein, da passt nicht mehr so viel rein."

Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)

* WfbM gewährleisten Menschen, die wegen ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, berufliche Bildung und Tätigkeitsmöglichkeiten, welche sich an den Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes orientieren.
* Sie beschäftigen Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sowie psychisch Erkrankte.
* Die Werkstätten sollen die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen; die Arbeit soll sinnstiftend sein.
* WfbM betrachten sich auch als wichtige Standortfaktoren und zuverlässige Partner von Unternehmen der Region. (LAG WfbM Sachsen e.V.)

Etwa 16.500 Frauen und Männer arbeiten sachsenweit in den rund 60 Werkstattorten für Menschen mit Behinderung. Bei reichlich 70 Prozent handle es sich um Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, sagt Elisabeth Nitzsche. Sie ist die Geschäftsführerin des Dachverbandes der Werkstätten, der "Landesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V."

Kompliziertes Lohnsystem

Das monatliche Werkstattgeld setzt sich aktuell aus drei Säulen zusammen, wie Nitzsche erklärt: einem Grundbetrag in Höhe von 126 Euro, einem Arbeitsförderungsgeld von 52 Euro und einem Steigerungsbetrag. Letzterer werde je nach Unternehmensphilosophie in den Werkstätten teils nach Leistungsprinzip, teils nach dem Solidaritätsprinzip verteilt.

So kann der Lohn eines Beschäftigten beispielsweise in den Lausitzer Werkstätten in Hoyerswerda bis auf 280 Euro steigen, wie der dortige Geschäftsführer Robert Rys erklärt. Er vertritt dazu eine klare Meinung. "Es sollte definitiv mehr sein." Nur ist das wirtschaftlich nicht zu stemmen, verneint Dachverbandschefin Nitzsche. Man könne die Menschen nicht denselben Bedingungen wie auf dem Ersten Arbeitsmarkt aussetzen. Die Werkstatt sei ein geschützter Raum.

Familien beantragen Sozialleistungen

Den betroffenen Familien bleibt also nichts anderes, als ein ganzes Arbeitsleben Anträge zu schreiben, um finanziell auf einen grünen Zweig zu kommen: mit Kindergeld, Bürgergeld, Rente, Wohngeld und so weiter. "Wir müssen uns zu allem offenlegen", sagt Angelika Stoll, die Mutter von Ingolf, und atmet tief ein. Sie versteht nicht, dass man das gerade den Behinderten abverlangt. "Auch viele Eltern sind teilweise gar nicht in der Lage, einen Antrag zu schreiben."

Wir müssen uns zu allem offenlegen.

Angelika Stoll Mutter von Ingolf

Attest für jeden einzelnen Krankheitstag

Ihren Ehemann Harald Stoll ärgert zudem, dass Behinderte nicht die gleichen Rechte haben wie Menschen auf dem sogenannten Ersten Arbeitsmarkt. Ingolf sei nicht oft krank, aber wenn er zum Beispiel mal Zahnschmerzen habe, könnte er sich nicht einfach telefonisch für den einen Tag entschuldigen lassen. Die Werkstatt verlange stets ein ärztliches Attest. Das sei ungerecht, so der Vater.

Die Abwesenheitsmeldungen regeln die Werkstätten unterschiedlich, erklärt dazu Nitzsche von der Landesarbeitsgemeinschaft. Wegen einem Tag mache man da keine Späne, sagt etwa Robert Rys von den Werkstätten in Hoyerswerda. Da gehe die Krankmeldung auch per Telefon. Allerdings müsse man als Werkstatt seine Kosten gegenüber dem Sozialverband abrechenbar machen. Man braucht also viele Nachweise auf Papier.

Forderung nach Mindestlohn

Die kritischen Stimmen wegen des ungerechten und unübersichtlichen Systems der Bezahlung sind nicht neu. Der Leipziger Bundestagsabgeordnete und ehemalige Förderschullehrer Sören Pellmann (Die Linke) fordert hier dringend die Reformierung. Das Werkstattentgelt sei weit entfernt von einem existenzsichernden Einkommen. "Ich halte das für eine massive Ungerechtigkeit und eine Verletzung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen, die in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert sind", so der Politiker.

Pellmann fordert die Abschaffung des jetzigen Werkstattentgeltes: Es müsse durch eine Systematik ersetzt werden, die auf Basis des gesetzlichen Mindestlohns funktioniere.

Ich halte es für eine massive Ungerechtigkeit und eine Verletzung der Menschenrechte.

Sören Pellmann Linken-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Förderschullehrer

Studie zu einem besseren Entgeltsystem

Die in Deutschland 2009 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention hat das System der Werkstattbeschäftigten wieder in den Fokus gerückt. Im September dieses Jahres ist nach langer Kopfarbeit eine fast 300 Seiten lange Studie erschienen. In Auftrag gegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, beleuchtet sie die Möglichkeiten für ein transparentes und zukunftsfähiges Entgeltsystem in den Werkstätten sowie für einen leichteren Wechsel Behinderter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Das Fazit der Studie: Man brauche ein Entgelt, das die geleistete Arbeit anerkennt und wertschätzt und keine weiteren Sozialleistungen erforderlich macht. Dazu schlagen die Wissenschaftler mögliche Alternativen vor. Nun wäre die Bundespolitik am Zug, eine Reform voranzutreiben.

41 Arbeitsjahre in der Werkstatt

Doch zurück nach Löbau: Ingolf Stoll arbeitet mittlerweile 41 Jahre in der Werkstatt. Er wird sich nie allein versorgen können. Er kann weder schreiben noch lesen und auch nicht mit Geld umgehen. Auf der anderen Seite betrachtet er die Dinge in seiner Welt durchaus reflektiert. Wie die Momente, wenn es zum Streit unter Werkstattbeschäftigten kommt, der eigentlich gar nicht sein müsste. "Zum Beispiel, wenn der Uwe von einem Dynamo-Spiel kommt und die haben nicht gewonnen. Dann ist es halt so. Dann muss man auch mal akzeptieren, es gibt so viele Mannschaften in der Bundesrepublik."

Behinderte werden als Menschen zweiten Ranges behandelt und das finde ich nicht richtig.

Harald Stoll Vater von Ingolf

Ingolf könnte auch zu Hause bleiben, sagt seine Mutter Angelika Stoll, die Rentnerin ist. "Aber er will das nicht, er will arbeiten gehen." Die Menschen in Werkstätten legten teils so einen Elan an den Tag, das würde sie sich von manch anderen wünschen. Ihr Ehemann Harald Stoll nickt zustimmend. Trotzdem würden Behinderte als Menschen zweiten Ranges behandelt, "und das finde ich nicht richtig", sagt er. "Wir haben darauf keinen Einfluss", sagt Ingolf Stoll.

MDR (ama)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport aus dem Studio Bautzen | 03. Januar 2024 | 14:30 Uhr

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